25. Mai 2025
Markus Somm: Wer «Free Palestina» ruft, meint Hass und Tod
Am vergangenen Mittwochabend hat ein Mann zwei Menschen, die er für Juden hielt, auf offener Strasse in Washington erschossen. Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim. Die beiden arbeiteten für die israelische Botschaft, wo sie sich kennen und lieben gelernt hatten. Sie waren ein Paar. Noch vor wenigen Tagen hatte Yaron einen Verlobungsring gekauft, um ihr einen Heiratsantrag zu machen, doch vorher wollte er sie seinen Eltern vorstellen, weswegen die beiden planten, nächste Woche nach Jerusalem zu fliegen. Yaron war 30 Jahre alt, sie 26.
Entgegen der Annahme seines mutmasslichen Mörders war er ein Christ. Geboren als Sohn eines israelischen Vaters und einer deutschen Mutter, war er zunächst in Deutschland aufgewachsen und wanderte erst als Teenager nach Israel aus.
Sein Freund, ein koptischer Christ, der in Ägypten geboren worden war, erzählte der «Free Press», einem amerikanischen Onlinemagazin: «Yaron war ein gütiger und grosszügiger Freund, ein gläubiger Christ und ein Verteidiger Israels. Wir sassen jeweils stundenlang bei einem Gin Tonic zusammen und unterhielten uns über frühchristliche Theologie. Wenn es wieder zu einem Angriff auf Christen in Ägypten kam, rief er mich jedes Mal an und erkundigte sich, wie es mir ging.» Yaron könnte man als einen weltgewandten Menschen bezeichnen, er sprach Deutsch, Hebräisch, Englisch und Japanisch.
Sarah war Amerikanerin und Jüdin. Sie hatte ihre Kindheit in Kansas verbracht, also im Mittleren Westen, wo es flach ist und die übrige Welt weit weg liegt. Sie hatte gleich zwei Studien mit dem Master abgeschlossen, eines davon in Umweltwissenschaften, sie war eine Idealistin, vielleicht eine Träumerin. Wenn sie Gutes tat, dann meinte sie es ernst: Freiwillig war sie für eine israelisch-palästinensische NGO tätig gewesen, die sich für den Frieden zwischen den beiden Völkern einsetzt. Einen Monat nach dem Massaker vom 7. Oktober, nachdem die Hamas 1200 Juden wahllos abgeschlachtet hatte, bewarb sie sich um einen Job bei der israelischen Botschaft. Wohl aus Überzeugung, bestimmt im Glauben, auch hier Gutes zu tun.
Als die beiden jungen Leute am Mittwochabend auf ihren Mörder trafen, der sie nicht kannte und dem sie vorher nie begegnet waren, kamen sie gerade von einem Event, den eine jüdische Organisation in einem jüdischen Museum veranstaltet hatte: Es ging darum, humanitäre Hilfe zu beschaffen, die auch den Palästinensern in Gaza hätte zugutekommen sollen.
Der Täter, dessen Name ich nicht nenne, stand vor dem Museum auf der Lauer, weil er mit gutem Grund davon ausging, hier Juden zu finden. So wie ein Nazi sich früher vor die Synagoge stellte. Als man ihn verhaftete, schrie er «Free Palestine». Er hätte auch «Juda verrecke!» sagen können, das wäre ehrlicher gewesen. Offenbar eigens aus Chicago angereist, wo er wohnt, gehört er einer sozialistischen Partei an, wobei diese Partei nun versichert, man habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Wer weiss? Jedenfalls ist er ein Linker.
Weltweit viel Entsetzen. Zu Recht, und doch vermute ich, dass manche insgeheim denken, dass auch dafür Israel zuständig ist. Führt es nicht einen brutalen Krieg, sind die Juden nicht selber schuld? Schon diese Fragen riechen nach Antisemitismus. Seit 2000 Jahren sind die Juden selber schuld, dass sie Jesus ans Kreuz genagelt haben, auch wenn das die Römer taten. Gewiss, man kann Israel kritisieren, wie jedes Land, doch kurios ist nur, dass alle anderen Krieg führenden Länder nie so getadelt werden, geschweige denn diesen Hass auf sich ziehen: Oder wann genau wurde zum letzten Mal ein junges russisches Paar auf offener Strasse niedergeschossen, weil es Russisch sprach? Wenn es um Israel, wenn es um Juden geht, wenden viele Menschen plötzlich ganz andere Massstäbe an, die sie für sich selbst und alle anderen nie anwenden.
Worte haben manchmal Folgen. «Free Palestine», rufen auch bei uns Studenten, die am Zürichberg in sicheren Villen aufgewachsen sind, wo es Lego und Playmobil gab, keine Verfolgung. Mag sein, dass ihnen nicht bewusst ist, dass sie Hass und Tod verbreiten – bis es ihnen bewusst wird, weil sie selber töten. Auch die Mordlust der RAF, der deutschen Terroristen, fand zuerst im Kopf statt. Als sich die beiden auf der Botschaft verliebten, so hört man, hielten sie das lange geheim, auch dann noch, als es allen klar war. Schliesslich gab es keine Minute, die die beiden nicht zusammen verbrachten. Nach der Arbeit spazierten sie zu Fuss nach Hause, jeden Lunch nahmen sie zusammen ein. Am Mittwoch sind sie zusammen gestorben.
Markus Somm ist Chefredaktor des «Nebelspalters».
Dieser Kommentar erschien zuerst in der SonntagsZeitung vom 25. Mai 2025