5. Dezember 2025
Warten auf den nächsten Kampf – Eindrücke einer Israelreise
Von Sacha Wigdorovits
Wer die Uferpromenade in Tel Aviv entlang spaziert, egal ob nach Süden in Richtung Jaffa oder nach Norden zu den Cafés, Restaurants und Geschäften beim alten Hafen, der wähnt sich inmitten von Normalität.
Frauen und Männer jeden Alters joggen wie immer mit ihren Kopfhörern im Ohr. Grossväter fahren auf ihren Velos ihre Enkelkinder spazieren. Und die Hundebesitzerinnen und -besitzer lassen ihre vierbeinigen Lieblinge am speziell dafür reservierten Strand herumtollen, um nachher unter der Hundedusche mit Shampoo den Sand aus ihrem Fell zu waschen. Nicht umsonst hat Leon de Winter seinen jüngsten Roman, in dem Tel Aviv eine zentrale Rolle spielt, «Stadt der Hunde» genannt. Wobei es auch an wohlgenährten Katzen nicht mangelt.
Aber diese friedliche Stimmung ist trügerisch. Denn Israel ist immer noch traumatisiert vom 7. Oktober 2023. Dies manifestiert sich besonders, wenn man das Areal des Nova Festivals besucht, wo die Hamas und ihre Helfer aus Gaza über 400 friedlich zusammen feiernde Festivalsteilnehmer bestialisch ermordeten.
An jeden einzelnen dieser fast ausnahmslos jungen Menschen, erinnert ein auf einem Pfahl befestigtes Schild mit Namen und Foto des oder der Ermordeten. Die Bilder zeigen fröhliche, unbeschwerte, lachende Gesichter. Aber es sind alles die Gesichter von Toten. So wurde aus einem einstigen Festivalareal eine Gedenkstätte, und jeden Tag pilgern Tausende von Israelis und ausländischen Besuchern dorthin.
Mazal ist eine der Überlebenden. Auch sie kommt jede Woche an diesen Ort zurück, um ihre Freunde Danielle und Yochai zu besuchen, die auf der Flucht links und rechts von ihr rücklings erschossen wurden. Minute für Minute schildert sie jenen Tag, ihre Flucht, ihr Überleben. Es ist eine Erzählung des Grauens. «Es war nur der Gedanke an meinen neunjährigen Sohn, der mich überleben liess» sagt die Dreiunddreissigjährige.
Nur wenige Kilometer weiter, in Tekuma, werden die Hunderte von der Hamas am 7. Oktober beschossenen und anschliessend angezündeten Autos aufbewahrt. Um sicherzustellen, dass die Insassen verbrannten, hatten die Terroristen die Autos mit einer Flüssigkeit übergossen, die eine derart hohe Temperatur erzeugte, dass sich auch menschliches Fleisch entzündete. Von vielen Opfern blieb deshalb nur noch Asche übrig. Auch hierher pilgern jeden Tag viele Israelis, um ihrer Toten zu gedenken.
Die nicht nachlassende Anteilnahme der Bevölkerung am Grauen des 7. Oktober äussert sich aber auch in anderer Weise. Zum Beispiel in der aus Holz zusammengezimmerten Strassenkneipe der «Shuva Brothers». Diese heissen eigentlich Dror, Eliran und Kobi Trabelsi und stammen aus dem von religiösen Juden bewohnten Moshav (Gemeinschaftssiedlung) Shuva.
Noch am Abend des 7. Oktober hatten die drei Brüder an einer bei ihrem Ort gelegenen Strassenkreuzung unweit des Gazastreifens begonnen, den Sicherheitskräften und Armeeangehörigen Kaffee und Wasser auszuschenken. Heute verteilen sie den in Gaza und im Grenzgebiet stationierten Soldaten, die bei ihnen eine Ruhepause einlegen, und vorüberfahrenden Reisenden täglich über 3’000 selbst gekochte Mahlzeiten. Kostenlos, finanziert durch Spenden aus aller Welt.
Dass die Shuva Brothers ihren Freiwilligendienst demnächst einstellen werden, ist unwahrscheinlich. Denn nur die wenigsten Israelis glauben, dass der Krieg gegen die Hamas in Gaza und gegen die Hisbollah im Süden Libanons endgültig vorbei ist.
Zwar ist im Friedensplan von US-Präsident Donald Trump eine internationale Stabilisierungstruppe vorgesehen, um die Hamas zu entwaffnen und Gaza zu demilitarisieren. Und im Norden hat sich die libanesische Regierung verpflichtet, der dortigen Terrormiliz Hisbollah die Waffen wegzunehmen. Aber in Israel macht man sich keine Illusion darüber, dass dies geschehen wird. Beides, so die vorherrschende Meinung, wird nur dann zustande kommen, wenn es die israelische Armee macht.
Dies verdeutlicht das Gespräch mit Sarit, der Sicherheitsverantwortlichen in Za’rit, und mit Yoram in Shtula, einem kleinen Moshav, der ebenfalls an der Grenze zum Libanon liegt. Er war am 7. Oktober 2023 in Erwartung eines Angriffs der Hisbollah zusammen mit 11 andern in seinem Ort zurückgeblieben, um ihn zu verteidigen. Die restliche Bevölkerung wurde evakuiert. Aber genau so tönt es auch, wenn man mit Israelis in den grossen Städten im Zentrum des Landes oder mit den Bewohnern im Süden nahe der Grenze zu Gaza spricht.
«In fünf Monaten ziehen wir wieder in den Krieg», sagt der frühere Nationale Sicherheitsberater der Regierung, Yaakov Amidror, beim Treffen in Tel Aviv. Dann nämlich, wenn sich gezeigt hat, dass die zweite Phase des Trump-Plans Theorie bleibt und die Hamas immer noch Gaza regiert und terrorisiert.
Dass die Entmachtung der Hamas unerlässlich ist, das ist derzeit der einzige gemeinsame Nenner in der israelischen Bevölkerung. Denn ansonsten ist der jüdische Staat gespalten wie wohl noch nie zuvor in seiner nicht ganz 80-jährigen Geschichte.
Jeden Samstagabend, nach Ende des Schabbat, finden in Tel Aviv, Haifa und den andern grossen Städten des Landes Demonstrationen statt. Dabei ging es bisher auch um die letzten toten Geiseln, die von der Hamas noch nicht an Israel übergeben wurden. Vor allem aber geht es gegen die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinen rechtsextremen Koalitionspartnern Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich
Die Demonstrationen begannen bereits Monate vor dem 7. Oktober 2023 als Proteste gegen die von der Regierung geplante Justizreform. Diese hat zum Ziel den Obersten Gerichtshof (Supreme Court) zu entmachten und ganz insgesamt den Einfluss des Justizsystems auf die Politik zu verringern. Da Israel keine geschriebene Verfassung hat, kommt der Justiz und insbesondere dem Supreme Court eine viel grössere Bedeutung zu als beispielsweise dem Eidgenössischen Bundesgericht in der Schweiz.
Die Proteste auf den Strassen der grossen israelischen Städte richten sich auch gegen die Freistellung der ultra-orthodoxen Juden (Haredim) vom Militärdienst. Dieses Thema ist jetzt wieder besonders aktuell, weil die Regierung, vor wenigen Tagen ein Gesetz vorgelegt hat, das die Haredim zum Dienst in der israelischen Armee IDF verpflichten sollte. Dazu hatte sie der Oberste Gerichtshof bereits 2024 verpflichtet.
Doch das jetzt vorgelegte Gesetz entspricht in keiner Weise dem seinerzeitigen Willen des Gerichts. Es gibt zwar vor, die Dienstpflicht für Haredim anzuordnen. Gleichzeitig enthält es aber zahlreiche Bestimmungen, welche jenen Ultra-Orthodoxen, die dem Einberufungsbefehl keine Folge leisten, de facto Straffreiheit garantieren. Es ist damit ein typischer zahnloser Papiertiger.
Ministerpräsident Netanjahu hat diesem Gesetzesentwurf nur zugestimmt, um sich weiterhin die Unterstützung der haredischen Parteien zu sichern und seine Koalitionsregierung zu retten. Ob ihm dies gelingt und er im Parlament (Knesset) eine Mehrheit für das Gesetz findet, ist indessen unsicher. Denn nicht nur die Oppositionsparteien laufen gegen die Vorlage Sturm, auch in Netanjahus eigener Likud-Partei haben Knesset-Abgeordnete bereits öffentlich erklärt, dem Gesetz in dieser Form nicht zuzustimmen.
Empört über die Gesetzesvorlage sind vor allem die säkularen Israelis, die etwas mehr als 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Aber auch sehr viele nationalreligiöse Israelis sind dagegen und deshalb auf ihre eigenen Parteien sauer. Denn diese zionistisch-eingestellten religiösen Juden leisten zusammen mit den säkularen Israelis ebenfalls Militärdienst und tragen gemeinsam mit ihnen die ganze Last des Krieges.
Die Freistellung der Haredim vom Militärdienst empört die weltlichen Israelis umso mehr, als der Staat auf ihre Kosten und mit ihren Steuergeldern die Ultrareligiösen, die lediglich rund 14 Prozent der Bevölkerung ausmachen, jedes Jahr mit Riesensummen unterstützt.
Auch der Armee ist mit dem «Schein-Einberufungsgesetz» nicht gedient. Sie wäre wegen der sich abzeichnenden Fortsetzung des Krieges gegen die Hamas und Hisbollah dringend auf das 80’000 bis 100’000 Mann grosse Reservistenpotenzial von Ultra-Religiösen im dienstfähigen Alter angewiesen.
So ist die Bevölkerung Israels zwar vereint im Trauma und in der Trauer über den 7. Oktober und in ihrer desillusionierten Erwartung einer baldigen Fortsetzung des Krieges. Aber politisch ist sie tief zerrissen.
Es ist weniger ein Graben zwischen Links und Rechts, der das Land spaltet, denn auch in der rechts angesiedelten Likudpartei lehnen manche ihre rechtsextremen Regierungspartner Smotrich und Ben-Gvir ab. Es ist vor allem ein Graben zwischen dem säkularen und dem ultrareligiösen Israel. Die Frage, um die es im Oktober 2026 bei den nächsten Wahlen geht, lautet deshalb nicht, gewinnt Links oder Rechts. Die Frage lautet: Bleibt Israel ein fortschrittliches, zionistisches, demokratisches (Erfolgs-)Projekt? Oder entwickelt sich der jüdische Staat in den nächsten Jahrzehnten Schritt für Schritt zurück ins biblische Zeitalter?
Sacha Wigdorovits ist Präsident des Vereins Fokus Israel und Nahost, der die Webseite fokusisrael.ch betreibt. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte, Germanistik und Sozialpsychologie und arbeitete unter anderem als USA-Korrespondent für die SonntagsZeitung, war Chefredaktor des BLICK und Mitbegründer der Pendlerzeitung 20minuten.











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