20. Oktober 2025
NZZ: Weder Israel noch die Palästinenser sind bereit für einen Frieden
Die Waffenruhe in Gaza und die Freilassung der Geiseln sind ein Triumph der Diplomatie – doch NZZ-Chefredaktor Eric Gujer warnt in seinem Kommentar vor trügerischem Optimismus.
Nach zwei Jahren Krieg herrscht Stille über den Ruinen von Gaza. Doch der eigentliche Kampf, schreibt Eric Gujer, beginne jetzt – jener um die Deutungshoheit. Das Massaker vom 7. Oktober und der darauffolgende Gaza-Krieg seien «die tiefste Zäsur in der jüdisch-palästinensischen Geschichte seit Jahrzehnten».
Für Israel sei dieser Tag das Wiederaufleben des Holocaust im kollektiven Gedächtnis. «„Nie wieder» – was in Deutschland zur leeren Formel geworden sei, bleibe für Israel «wahre Staatsräson». Bis die Bürger ihr Land wieder als sichere Heimstatt sehen, werde es dauern. Die Hamas habe «die jüdische Nakba» ausgelöst, ein Trauma, das Generationen prägen werde.
Gujer warnt davor, Ursache und Wirkung zu verkehren: «Die Massaker sind die Ursache, der Krieg die Folge.» Wer das leugne oder die Gewalt der Hamas als «Notwehr gegen Apartheid» deute, mache sich «zum Komplizen der Barbarei». Gerade in Europa und bei Teilen der Linken sieht er diese moralische Verkehrung weit fortgeschritten.
Hamas hat Zeit – und wird wieder losschlagen
Der NZZ-Chefredaktor beschreibt den Gaza-Krieg als Bruderkrieg zwischen Kain und Abel – nicht als klassischen Konflikt zwischen Staaten, sondern als «atavistischen, inneren Zwist», in dem sich der alte Nahe Osten zeige. Während Israel im Iran und im Libanon mit begrenzten Schlägen seine Ziele erreicht habe, sei Gaza «in einer Operation ohne Strategie und Selbstbeschränkung» versunken.
Die Hamas, so Gujer, habe sich nur deshalb auf Trumps Friedensplan eingelassen, weil sie nach zwei Jahren Krieg «jeden Rückhalt verloren» habe. Doch die Bewegung werde wieder zuschlagen: «Die Muslimbrüder sind pragmatische Fanatiker. Sie verstehen es, abzuwarten.» Waffenruhe bedeute für sie nur Zeitgewinn. Die Islamisten würden sich nicht entwaffnen lassen, «denn sie glauben, Gottes Werk zu verrichten».
Auch Israel sieht Gujer nicht am Ziel, sondern in einer Atempause. Die Regierung Netanyahus habe die Geiselrückkehr durchgesetzt, aber ein Sicherheitsrisiko in Kauf genommen. Unter den freigelassenen Gefangenen seien «erfahrene Kader, die die ausgedünnten Reihen der Hamas verstärken».
Um die eigene «Nakba» zu verarbeiten, müsse sich Israel seiner Lebenslüge stellen: Die Sicherheitsmauern hätten Anschläge verhindert, aber auch das Bewusstsein für die Existenz der Palästinenser verdrängt «Aus den Augen, aus dem Sinn», schreibt Gujer – der Zaun habe eine Illusion geschaffen: Frieden ohne Palästinafrage.
Rechtsruck und Blockade
Inzwischen habe die Siedlerbewegung das politische Zentrum Israels erobert. «Mit ihnen gibt es keine Kompromisse und keine Zwei-Staaten-Lösung.» Die Folge sei eine Regierung, die «um sich selbst kreist» und keine strategische Linie mehr finde.
Auf internationaler Ebene diagnostiziert Gujer eine verheerende Doppelmoral: Der Krieg im Sudan bewege in Europa niemanden, aber der israelische werde mit beispielloser Empörung begleitet – ein Ausdruck eines «neuen Judenhasses, vornehm als Israel-Kritik verbrämt».
Die arabischen Regime hätten unterdessen ihre Beziehungen zu Israel eingefroren, während Trump paradoxerweise Katar – einst den Patron der Islamisten – unter persönlichen Schutz stellte. Die Folge: eine Dynamik, die auch Israel «von den Ereignissen überrollt».
Am Ende zieht Gujer eine ernüchternde Bilanz: Weder Israel noch die Palästinenser sind zu einem echten Frieden bereit. Israel vertraue zu sehr auf seine militärische Überlegenheit – „wenn man einen Hammer hat, sehen alle Probleme wie Nägel aus“ –, während die Palästinenser in religiösem Fatalismus gefangen blieben. «Israel vertraut weiterhin auf militärische Stärke – obwohl, wie Gujer schreibt, ‚Stärke allein keinen Frieden schafft‘.»Quelle: NZZ vom 17. Oktober (Bezahlschranke)
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