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Israel vor Zerreissprobe – umstrittener Kriegsentscheid der Regierung Netanyahu

Von Sacha Wigdorovits

Nach einer zehnstündigen Sitzung hat das israelische Sicherheitskabinett am frühen Freitagmorgen entschieden, den Krieg in Gaza fortzusetzen. Das Kabinett beauftragte die israelische Armee IDF mit der Eroberung von Gaza City. In einem zweiten Schritt soll die IDF allenfalls auch in weitere von ihr bisher noch nicht besetzte Gebiete vordringen. 

Die IDF kontrolliert bisher rund 75% des Gazastreifens. Doch der Grossteil der dortigen Bevölkerung von insgesamt rund zwei Millionen Menschen befindet sich im noch nicht von der israelischen Armee eroberten Gebiet.

Den 800’000 in Gaza City lebenden Menschen gibt Israel Zeit bis am 7. Oktober, dem zweiten Jahrestag des von der Hamas verübten Massakers, um Gaza City zu verlassen und sich im Süden des Landes in Sicherheit zu bringen. Danach soll die IDF die Stadt belagern und dann in sie eindringen, um die Reste der im bisherigen Kriegsverlauf bereits stark dezimierten Hamas zu eliminieren.

In Gaza City sollen sich der Grossteil der noch verbliebenen Hamas-Terroristen und die in ihren Händen und jenen des Islamischen Djihad verbliebenen 50 israelischen Geiseln aufhalten. 20 von ihnen werden noch am Leben vermutet.

Der Entscheid des Sicherheitskabinetts scheint etwas weniger weit zu gehen als der Plan, den Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vor der Kabinettssitzung gegenüber Fox News bekannt gegeben hatte. 

Netanyahu hatte dem amerikanischen Fernsehsender erklärt, Israel werde ganz Gaza besetzen und danach einer von arabischen Staaten gebildeten Sicherheitstruppe übergeben. Israel wolle einzig in einer Pufferzone zum eigenen Staat präsent bleiben. Welche arabische Staaten die Sicherheit in Gaza garantieren sollen, sagte Netanyahu nicht. 

Die Zielsetzungen, die das Sicherheitskabinett an seiner Sitzung beschloss, scheinen sich nicht vollständig mit dieser Ankündigung zu decken. So soll mit der Fortsetzung des Kriegs das Folgende erreicht werden: 1. Entwaffnung der Hamas. 2. Rückkehr der noch verbliebenen Geiseln. 3. Entmilitarisierung von Gaza. 4. Kontrolle der Sicherheit durch Israel. 5. Eine zivile Regierung in Gaza ohne Einbezug von Hamas oder Palästinensischer Autonomiebehörde PA, die zurzeit das Westjordanland verwaltet. 

Der Entscheid des Sicherheitskabinetts dürfte nicht nur Netanyahus persönlichen Überzeugungen geschuldet sein, sondern vor allem dem Druck seiner rechtsextremen Regierungspartner Bezalel Smotrich von der «Religiös-Zionistischen Partei» und Itamar Ben-Gvir von der Partei «Otzma Yehudit» (Jüdische Kraft). Diese setzen sich für eine dauerhafte Annexion Gazas und die Vertreibung der dortigen Bevölkerung sowie Besiedlung Landes durch Israel ein. Netanyahu erklärte indessen gegenüber Fox News, dass eine Annexion Gazas keine Option sei.

Auch so stellt der Entscheid des Sicherheitskabinetts Israel vor eine neue massive Zerreissprobe. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich gemäss jüngsten Umfragen ein Ende des Krieges und die Befreiung der Geiseln. Vor allem aber handelt das Kabinett gegen die ausdrückliche Empfehlung der Armeeführung. 

Wie schon zuvor wehrte sich Generalstabschef Eyal Zamir auch an der Kabinettsitzung vehement gegen den Auftrag an die IDF, den Krieg in Gaza fortzusetzen. Gemäss dem israelischen Fernsehsender «Channel 12» soll Zamir die Minister gewarnt haben: «Wenn wir mit dem Plan fortfahren, Gaza zu besetzen, gefährden wir das Leben der Geiseln. Wir können nicht garantieren, dass ihnen nichts passieren wird.» Zudem seien die Soldaten müde und es sei mit schwierigen humanitären und sanitären Bedingungen für die Bevölkerung von Gaza zu rechnen, gab Zamir gemäss dem Fernsehsender zu bedenken. 

Bereits vor Beginn der Kabinettssitzung hatte der Generalstabschef öffentlich erklärt, er werde sich gegen den Plan zur vollständigen Besetzung von Gaza wehren. «Eine andere Meinung zu vertreten (als die Regierung, Red.) sei überlebenswichtig», hatte Zamir gesagt. Israel begebe sich «in ein schwarzes Loch», wenn es die vollständige Besetzung von Gaza anstrebe, soll er gemäss israelischen Medien gewarnt haben.

Scharf kritisiert werden die neuen Kriegspläne der Rechtsaussen-Regierung auch von der gesamten israelischen Opposition. «Die nächtliche Entscheidung des Kabinetts ist eine Katastrophe, die zu vielen weiteren Katastrophen führen wird», schrieb der frühere Ministerpräsident Yair Lapid von der Zentrumspartei «Yesh Adid» (Es gibt eine Zukunft) auf «X» (Twitter). Auf Drängen von Smotrich und Ben-Gvir habe Netanyahu «entgegen der klaren Meinung des Militärs und der Sicherheitsbehörden gehandelt.» Diese Fortsetzung des Krieges werde sich, so Lapid, «über viele Monate hinziehen, zum Tod der Geiseln führen, zahlreiche Soldaten das Leben kosten, die israelischen Steuerzahler Dutzende von Milliarden kosten und in einer diplomatischen Katastrophe enden.»

Der frühere Verteidigungsminister Avigdor Lieberman von der rechts-konservativen Partei «Yisrael Beiteinu» (Israel unser zuhause) kritisierte: «Der von der Regierung entgegen der professionellen Einschätzung des Generalstabschefs gefasste Beschluss zeigt, dass Entscheidungen getroffen werden, die nicht sicherheitsorientiert, sondern politisch motiviert sind. Der Premierminister opfert erneut die Sicherheit israelischer Bürger für seinen Posten.» 

Yair Golan, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei «HaDemokratim» (Die Demokraten) verurteilte den Entschluss des Sicherheitskabinetts ebenfalls scharf. Er rief die Bürgerinnen und Bürger zum Widerstand dagegen auf, indem sie die Arbeit niederlegen sollten. «Die Regierung zieht unser Land in einen unnötigen Krieg, der die Situation Israels in jeder Beziehung komplizierter macht – sicherheitsmässig, auf dem internationalen Parkett und wirtschaftlich», begründete Golan seinen Aufruf.

Noch ist die neue Gaza-Offensive der israelischen Armee keine Tatsache. Denn bis zum Beginn der Belagerung von Gaza City bleiben zwei Monate. Das wäre grundsätzlich genügend Zeit, um durch eine diplomatische Lösung die Fortsetzung des Krieges abzuwenden. 

Allerdings müssten dazu zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss die Hamas sich im Interesse ihrer leidenden Bevölkerung bereit erklären, die Waffen niederzulegen und die noch verbliebenen Geiseln freizulassen. Zweitens braucht es den Willen von Ministerpräsident Netanyahu, sich den extremistischen Forderungen seiner Rechtsaussen-Partner Ben-Gvir und Smotrich zu widersetzen. 

Beide Voraussetzungen scheinen derzeit nicht gegeben.


Sacha Wigdorovits ist Präsident des Vereins Fokus Israel und Nahost, der die Webseite fokusisrael.ch betreibt. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte, Germanistik und Sozialpsychologie und arbeitete unter anderem als USA-Korrespondent für die SonntagsZeitung, war Chefredaktor des BLICK und Mitbegründer der Pendlerzeitung 20minuten. 

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