Zum Inhalt

Entledigt sich Netanyahu am Montag seiner selbstgestrickten Zwangsjacke?

Von Sacha Wigdorovits

Beinahe eine Dreiviertelstunde hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Freitag vor der UNO-Vollversammlung gesprochen. Oder wenigstens von dem, was von ihr übrig geblieben war. Denn zahlreiche Delegierte waren einem Aufruf der Palästinensischen Autonomiebehörde gefolgt und hatten vor seinem Auftritt den Saal verlassen hatten. Das sagt weniger über Netanyahu aus als viel mehr über den erbärmlichen Zustand der UNO und ihres Personals. 

Bei seinem Auftritt kam Netanyahu auf vieles zu sprechen. Natürlich auf das durch die Hamas verübte Massaker, bei dem am 7. Oktober 2023 über 1’200 israelische Zivilisten und Angehörige weiterer Länder ermordet wurden. Ein Ereignis, das in der UNO offensichtlich schon viele vergessen haben oder mindestens gerne vergessen möchten. Deshalb nannte der israelische Ministerpräsident die Namen aller 20 noch am Leben vermuteten und von Hamas festgehaltenen Geiseln.

Netanyahu kam auch auf den erfolgreichen Feldzug Israels gegen den Iran und die Hisbollah zu sprechen und die neuen Möglichkeiten, welche sich dadurch eröffneten. Dabei erwähnte er ein Sicherheitsabkommen mit Syrien (das offenbar in Ausarbeitung ist), einen Frieden mit Libanon (wenn die Hisbollah entwaffnet sei) und irgendwann auch eine Rückkehr zu einer friedlichen und freundschaftlichen Beziehung mit dem Iran (wenn die dortige Bevölkerung das jetzige Regime gestürzt hat).

Auch auf die soeben erfolgte Anerkennung Palästinas als Staat durch Länder wie Frankreich, Grossbritannien oder Australien ging der israelische Ministerpräsident ein. Und natürlich auf den Krieg in Gaza und die Hamas, die von Israel so lange bekämpft werde, bis sie vernichtet sei.

Was Netanyahu dabei sagte, war im Grunde alles richtig. Er kritisierte mit scharfen Worten die Anerkennung des Staates Palästina im jetzigen Zeitpunkt als eine Anerkennung des Terrors vom 7. Oktober. Er widerlegte mit unzweifelhaften Fakten den ungeheuerlichen Vorwurf, dass Israel in Gaza einen Völkermord betreibe. Und er wehrte sich mit genauen Angaben über die in den letzten beinahe zwei Jahren erfolgten Hilfslieferungen gegen die Behauptung, Israel hungere die Bevölkerung in Gaza aus. Das Gegenteil sei der Fall: Israel versorge die Bevölkerung von Gaza mit Lebensmitteln. Doch letzten Monat habe sogar die UNO zugegeben, dass Hamas und andere bewaffnete Gruppen 85% der Hilfslieferungen geplündert hätten.

Zu dem im jetzigen Zeitpunkt zentralen Thema aber schwieg sich der israelische Ministerpräsident, der in gewohnt kämpferischer und rhetorisch versierter Art in akzentfreiem Amerikanisch sprach, weitgehend aus: Was genau geschieht in Gaza, am Tag nachdem Hamas besiegt ist und die Waffen ruhen.

Netanyahu sagte zwar, dass dann eine neue zivile Organisation die Verwaltung von Gaza übernehmen solle und Israel für die Sicherheit sorgen werde. Aber weitere Details liess er nicht verlauten. 

Dies ist der Preis dafür, dass Netanyahu sich, um an der Macht zu bleiben, mit seiner Likudpartei in die Fänge der zwei rechtsradikalen Parteien «Otzma Yehudit (Jüdische Stärke)» von Itamar Ben-Gvir und HaTzionut HaDadit (Religiöser Zionismus)» von Bezalel Smotrich begeben hat.

Denn den beiden Hardlinern schwebt eine Annexion von Gaza und sogar Vertreibung der dortigen Bevölkerung vor. Benjamin Netanyahu aber weiss, dass das für Israel keine Option ist. Weder in politischer noch in wirtschaftlicher noch in militärischer Hinsicht. 

Er hat deshalb schon verschiedentlich klar gemacht, dass er sich nach Ende des Krieges gegen Hamas keine dauerhafte Besetzung von Gaza wünscht, sondern lediglich eine Sicherheits-Pufferzone zur israelischen Grenze. Gaza hingegen solle von einer neuen Verwaltung regiert werden. Dieser könne allerdings die Palästinensische Autonomiebehörde, die für die Verwaltung des Westjordanlands zuständig ist, nicht angehören.

Mit dieser Forderung rennt Netanyahu bei einem Grossteil der Palästinenser offene Türen ein. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte dieser Tage der palästinensische Friedensaktivist Samer Sinijlawi, das palästinensische Volk habe sowohl von Präsident Mahmud Abbas und seiner Palästinensischen Autonomiebehörde als auch von Hamas genug. Es brauche deshalb freie Wahlen. 

Auch der in Ausarbeitung befindliche Gaza-Plan des ehemaligen britischen Premierministers Tony Blair und des Trump-Schwiegersohns Jared Kushner, sieht in Gaza nicht die Machtübernahme durch die Palästinensische Autonomiebehörde vor. Stattdessen soll eine «Gaza International Transitional Authority» den Küstenstreifen am Mittelmeer während mindestens fünf Jahren verwalten. 

Danach könnte allenfalls die Verwaltung an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übergeben werden. Dies aber nur dann, wenn deren «Performance – Leistung» bis dahin stimmt. Was heisst: Wenn die PA bis dann freie Wahlen zugelassen hat (letztmals war dies 2005/2006 der Fall) und nicht mehr korrupt ist. 

Für die Sicherheit müsste in Gaza gemäss dem Blair-Kushner-Plan eine internationale Schutztruppe sorgen. Sie müsste zu Beginn auch die Aufgabe übernehmen, die verbliebenen Hamas-Terroristen zu entwaffnen.

Einen in weiten Teilen identischen 21-Punkte-Plan hat gemäss der israelischen Plattform The Times of Israel Steve Witkoff ausgearbeitet, der Spezialberater von US-Präsident Donald Trump für den Nahen Osten.

Dieses Konzept dürfte US-Präsident Donald Trump mit dem israelischen Ministerpräsidenten am Montag besprechen, wenn er ihn im Weissen Haus zu einer Unterredung empfängt. Die Frage lautet: Wird sich Netanyahu dann der Zwangsjacke entledigen, die er sich durch die Koalition mit den beiden Rechtsaussenparteien selbst gestrickt hat, und einem solchen Plan zustimmen?

Denn damit würde er mit grösster Wahrscheinlichkeit das Ende seiner Regierung einläuten, da Ben-Gvir und Smotrich einen derartigen Vorschlag nie akzeptieren werden. Dies umso weniger, als Präsident Trump vor wenigen Tagen klipp und klar gesagt hat, er werde eine Annexion des Westjordanlandes durch Israel nicht akzeptieren – ein Ziel, das sich Smotrich und Ben-Gvir auf die Fahne geschrieben haben.

Andererseits kann es sich Netanyahu nicht erlauben, Präsident Trump und die USA vor den Kopf zu stossen und einen von seinem wichtigsten und derzeit beinahe einzigen Verbündeten kommenden Vorschlag zum Frieden abzulehnen.

Das Dilemma, das sich Netanyahu durch die Koalition mit seinen beiden rechtsradikalen Partnern Ben-Gvir und Smotrich eingebrockt hat, erinnert an Johann Wolfgang von Goethes berühmtes Gedicht «Der Zauberlehrling», wo es heisst: «Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht los.»

Bloss dass Benjamin Netanyahu längst kein politischer Zauberlehrling mehr ist, sondern ein machiavellistischer Polit-Zauberer. Aber selbst dem erfahrensten Zauberer gelingen nicht alle Kunststücke. Diese Erfahrung könnte am Montag im Weissen Haus auch Benjamin Netanyahu machen.


Sacha Wigdorovits ist Präsident des Vereins Fokus Israel und Nahost, der die Webseite fokusisrael.ch betreibt. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte, Germanistik und Sozialpsychologie und arbeitete unter anderem als USA-Korrespondent für die SonntagsZeitung, war Chefredaktor des BLICK und Mitbegründer der Pendlerzeitung 20minuten.

Haben Sie einen Fehler entdeckt?

Fehler melden

0/2000 Zeichen

Aktuelle Nachrichten