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„Palästinensertum“: Wie mit einem Wort Judenhetze betrieben wurde

Manchmal genügt ein einziger Satz, um die reflexhaften Reaktionen einer Gesellschaft sichtbar zu machen. Die vergangenen Tage gehörten zu diesen Momenten. Ein Instagram-Post der Gesellschaft Schweiz-Israel GSI, in dem der Wunsch geäussert wurde, das Palästinensertum möge eines Tages der Vergangenheit angehören, verwandelte sich innert Stunden in einen landesweiten Aufreger. Nicht weil die Formulierung radikal gewesen wäre, sondern weil ihre Bedeutung auf eine Weise umgedeutet wurde, die mehr über die politische Landschaft verrät als über den Satz selbst.

Innerhalb kurzer Zeit formten Social-Media-Profile, die sich der palästinensischen Sache verpflichtet fühlen, aus diesem Post einen Aufruf zur Vernichtung des palästinensischen Volkes. Andere Plattformen griffen dies bereitwillig auf und präsentierten es, als handle es sich beim Instagram-Post der GSI um ein Bekenntnis zu rassistischem Fanatismus. So entstand eine Dynamik, die sich weniger an dem orientierte, was geschrieben wurde, als an dem, was breitwillig daraus konstruiert wurde.

Besonders sichtbar wurde dies auf dem Kanal von Baba News, der den Instagram-Eintrag als offen genozidale Aussage inszenierte und in eine dramatische Erzählung einbettete. Darin behauptet die palästinenser-freundliche Plattform, Teile der Schweiz hätten die moralische Hemmschwelle verloren und würden die Idee ethnischer Auslöschung normalisieren. Die Darstellung war emotional aufgeladen und ihre Schlussfolgerung lautete, die GSI sei eine Gefahr für die Gesellschaft. Die moralische Empörung wurde gezielt genutzt, um politische Botschaften zu verstärken.

Die Welle der Empörung schwappte rasch in etablierte Medien über. Der Tages-Anzeiger übernahm das spektakuläre Narrativ und präsentierte den Satz als hetzerisch. Auch die Tribune de Genese und Le Courier folgten dieser Lesart und konstruierten daraus eine Aufforderung zum Genozid.

Diese Aufregung kann man, um mit William Shakespeare zu sprechen, als „viel Lärm um Nichts“ bezeichnen. Denn der Begriff „Palästinensertum“ ist eine direkte Übersetzung des englischen Wortes Palestinianism. In der internationalen politikwissenschaftlichen und publizistischen Analyse bezeichnet dieser Begriff seit Jahrzehnten eine Ideologie (nicht ein Volk). Der Kern dieser Ideologie ist die Ablehnung jüdischer Selbstbestimmung. Forscher wie Einat Wilf, Ben Cohen oder Andrew Fox verwenden den Begriff „Palestinianism (Palästinensertum)“, um eine Haltung zu beschreiben, die nicht auf die Schaffung eines palästinensischen Staates abzielt, sondern auf die Delegitimierung des jüdischen Staates.

Deutlich wird dies auch in einem oft zitierten Essay von Steve Kramer aus dem Jahr 2014 in The Times of Israel. Kramer beschreibt Palestinianism als „neue Religion Europas“, welche die klassischen Formen des Antisemitismu“s ersetzt hat. Für den französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy macht die Ideologie des „Palästinensertums“ Kritik an Israel zu einer automatischen Pflichtübung.

Auch der pro-palästinensische Politaktivist und Universitätsprofessor Edward Said verstand „Palestinianism“ als politisches Projekt und Gegen-Narrativ zum jüdischen Selbstbestimmungsanspruch. In „Permission to Narrate“ beschreibt er es als Konstruktion, das aus der Ablehnung der historischen Legitimität Israels entsteht und das palästinensische Anliegen in eine permanente Opposition zum jüdischen Staat stellt.

Der Begriff „Palästinensertum“ ist also eine rein wissenschaftliche und keine ethnische oder kulturelle Bezeichnung. Dass er im Deutschen ungewohnt klingt, ändert daran nichts. Auch andere Ideologien werden mit der Endung „-ismus“ oder „-tum“ bezeichnet, ohne dass damit Menschen oder Völker gemeint sind, geschweige denn, dass sie dadurch herabgesetzt werden. Dementsprechend ist auch der Satz „Möge das Palästinensertum bald der Vergangenheit angehören“, kein Aufruf zum Genozid an den „Palästinensern“, sondern einzig und allein der Wunsch, dass die als „Palästinensertum“ bezeichnete Ideologie, die ihrerseits das Existenzrecht des jüdischen Staates Israel verneint, bald ad acta gelegt wird.

Alles in allem bleiben von dem Vorfall deshalb zwei ernüchternde Erkenntnisse zurück: Erstens, welch gefährliche Dynamik entstehen kann, wenn Öffentlichkeit und Medien – sei es aus Unwissen, sei es in böser Absicht – eine Ideologie (Islamismus) mit einem imaginären Volk (Palästinensern) verwechseln und damit die Stimmung gegen jene anheizen, die einen (akademischen) Begriff völlig richtig und nüchtern verwendet haben. Zweitens wie asymmetrisch insbesondere die Medien in ihrem Kritikverhalten sind. Denn dieselben Medien, die schweigen, wenn Islamisten und linke Aktivisten antizionistische Parolen brüllen, geraten ins hyperventilieren, wenn sie glauben, dass von jüdischer Seite anti-palästinensische Äusserungen gemacht werden. Damit beweisen sie die Richtigkeit von dem, was Theodor W. Adorno schon vor 80 Jahren sagte: „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“


Henrik Beckheim Podcast.
„Dr Einat Wilf: Palestinianism has to die, in order for people to live“.
Video-Interview auf YouTube, veröffentlicht 2025.
URL: https://www.youtube.com/watch?v=eNBILq0eS0k

Kramer, Steve.
“Palestinianism”
The Blogs – The Times of Israel, 10. Dezember 2014.
URL: https://blogs.timesofisrael.com/palestinianism/

Said, Edward.
Permission to Narrate.
London Review of Books, Vol. 6 No. 3, 16. Februar 1984.
Originaltext online verfügbar:
https://www.lrb.co.uk/the-paper/v06/n03/edward-said/permission-to-narrate

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