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Die Messerattacke auf einen orthodoxen Juden in Zürich erschüttert die Schweiz

Die Messerattacke auf einen orthodoxen Juden in Zürich erschüttert die Schweiz – der Kriminologe Dirk Baier ordnet den Angriff im Interview mit dem  jüdischen Wochenmagazin TACHLES ein.

Wie ordnen Sie den Messerangriff des 15-jährigen Jugendlichen auf einen Juden in Zürich ein?
Dirk Baier: Die Tat ist auf mehrfacher Ebene aussergewöhnlich. Diese Form von physischer Gewalt mit Tötungsabsicht von Juden haben wir in der Schweiz sehr viele Jahre lang nicht erlebt. Es gab Körperverletzungen gegenüber Jüdinnen und Juden, aber nun haben wir eine neue Dimension erreicht. Bisher mussten Juden nicht um ihr Leben fürchten. Aussergewöhnlich ist auch das jugendliche Alter des Täters. Denn er handelte nicht aus jugendlichem Leichtsinn oder aufgrund psychischer Probleme. Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der bewusst handelte, weil er ideologisch extrem motiviert und indoktriniert ist.

Was schliessen Sie daraus?
Die Situation ist sehr brisant. Man kann die Tat nicht ohne den 7. Oktober und allem was danach geschehen ist, verstehen. Bisher war man sich zwar darüber bewusst, dass die Bedrohungslage gegenüber Jüdinnen und Juden gestiegen ist. Aber irgendwie war die konkrete Gefahr in der Schweiz noch weit weg.

Sie gehen also davon aus, dass der Jugendliche nach dem 7. Oktober radikalisiert wurde?
Wir müssen sehen, was der Krieg hier in der Schweiz anrichtet. Er hat in muslimischen, islamistisch orientierten Kreisen zu einer massiven Steigerung und Hetze gegenüber Jüdinnen und Juden geführt. Junge Menschen, die ohnehin in diese Richtung orientiert gewesen sind, haben durch die Ereignisse einen weiteren Schub in ihrer Radikalisierung erhalten. Ich denke, dass diese Tat nicht ohne die jüngsten Ereignisse zu erklären ist. Der 7. Oktober ist nicht die alleinige Ursache, aber mit Sicherheit ein Auslösemoment.

Kann man davon ausgehen, dass es im Umfeld des Täters ein Netzwerk weiterer gewaltbereiter junger Menschen gibt, die nun eine Bedrohung für Jüdinnen und Juden darstellen?
Man muss sich das Umfeld, in dem sich der junge Mann bewegt hat, unbedingt anschauen. Bisher geht man allerdings eher davon aus, dass er physisch eher ein Einzelgänger war. Offenbar spielen die Sozialen Medien bei der Radikalisierung eine grosse Rolle. Sein Netzwerk ist eher auf Social Media zu finden als im realen Raum. Ich vermute auch keine Schweizer Zelle, sondern eher internationale Gruppierungen im Netz. Das soll aber keine Entwarnung sein. Die Frage danach, wo junge Menschen in der Schweiz stehen, müssen wir uns dringend stellen. Ich habe bereits vor einigen Jahren anhand empirischer Daten darauf hingewiesen, dass antisemitische Einstellungen unter muslimischen Jugendlichen dreimal häufiger vorkommen als innerhalb der restlichen Jugend. Hier ist eine Affinität zum Antisemitismus klar ersichtlich.

Was heisst das für Sie als Kriminologe?
Der gelebte Islam ist für diese Entwicklung mitverantwortlich. Ich sage selbstverständlich nicht, dass alle Muslime antisemitisch sind oder es werden. Zurzeit setzen aber muslimische Gruppen bestimmte Themen, die Hass verbreiten. Es ist hier eine deutliche höhere Bereitschaft zu erkennen, Juden und Jüdinnen abzuwerten. Der 7. Oktober als Kampf gegen die Unterdrücker und die Tatsache, dass Israel nun Krieg im Gazastreifen führt, passen wunderbar ins Narrativ. Der Angriff, den wir am Samstag in Zürich erlebt haben, ist nur möglich, wenn der Täter in einem orthodoxen Juden keinen Menschen mehr sieht, sondern etwas, das man auslöschen darf. Wir müssen bereit sein, über die höheren antisemitischen Vorurteile innerhalb der muslimischen Bevölkerung in der Schweiz zu sprechen.

Die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) hat die Tat verurteilt…
Es geht nicht darum, den Musliminnen und Muslimen in der Schweiz pauschal eine Schuld zuzuweisen. Das Schreiben der VIOZ war sicher ein sehr wichtiges Zeichen. Am Ende sind es aber doch nur Worte, die wieder verhallen. Ich frage mich, was die muslimischen Gemeinschaften konkret gegen den nachweislich vorhandenen Antisemitismus unter Musliminnen und Muslimen tun. Was findet in den Schulen und Familien statt, was wird in den Moscheen kommuniziert? Wird auch versucht, international auf die muslimische Gemeinschaft einzuwirken? Die Hass-Narrative gegen Juden werden ja nicht in der Schweiz geboren. Wenn die muslimische Gemeinschaft sich mehr zu diesen Themen äussern würde, würde sich das auch positiv auf die Muslime in der Schweiz auswirken.

Handelt es sich bei der Tat tatsächlich um einen Terroranschlag? Stimmen Sie der Aussage des Zürcher Regierungspräsidenten Mario Fehr zu?
Als Terrorangriff ist eine bewusste Gewalttat einzustufen, die darauf abzielt, Angst und Schrecken zu verbreiten. Ein weiteres Kriterium sind politische Akteure, die den Staat zu bestimmten Handlungen zwingen wollen. Insbesondere das erste Element ist in der Tat von Samstag zu erkennen. Wenn man den Begriff «Terror» verwendet, richtet man im Zweifel aber noch mehr Schaden an. Mit dem Begriff wird assoziiert, dass nun in der Schweiz gar nichts mehr sicher sei. Und dass wir nun mit einer Serie von Anschlägen rechnen müssen. Aus meiner Sicht liegt hier ein gewisser Graubereich vor. Ich hätte den Begriff nicht genutzt; dass er aber von anderen gebraucht wird, hat durchaus seine Gründe. Der Begriff «Ideologisch motivierte Tat» scheint mir am treffendsten zu sein.

Was kann man nun tun, um weitere Taten zu verhindern?
Wir können nicht den Anspruch haben, solche Taten grundsätzlich verhindern zu können. Das funktioniert nicht. Ich spreche hier von dem berühmten Restrisiko, das wir in einer modernen, freien und offenen Gesellschaft tragen müssen. Die Alternative wäre, China als Vorbild zu nehmen und die Menschen im Land tagtäglich zu kontrollieren. Unser Anspruch kann nicht sein, solche Einzeltaten zu verhindern. Unsere Idee muss sein, jegliche Form von Vorurteilen in der Gesellschaft abzubauen. Das muss bei jeder nachwachsenden Generation passieren.

Wie kann das gelingen?
Begegnung ist wichtig, es gilt Brücken zu bauen. Es gibt bereits diverse Dialog- und Präventionsprogramme. Sie müssen ausgebaut und noch mehr in Anspruch genommen werden. Ausserdem braucht es international gut vernetzte Sicherheitsakteure. Der junge Täter war in den Sozialen Medien unterwegs und hat Dinge gepostet, die Auffälligkeiten beinhalten. Eine Kooperation mit der Polizei im Ausland ist daher sehr wichtig. Westliche Länder müssen hier eng zusammenrücken, sich austauschen und informieren. Aus meiner Sicht ist es nur mit internationaler Kooperation möglich, die Gefahren im Internet zu erkennen, einzuordnen und zu reagieren. Diese Art der Vernetzung könnte ein wichtiger Schlüssel sein, um Dinge frühzeitig zu erkennen und möglicherweise weitere Angriffe zu verhindern.

© Aus dem jüdischen Wochenmagazin TACHLES, 8.3.2024

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Redaktion
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