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12. Mai 2024«Kranke Verzerrung verdeutlicht Wesen des Antisemitismus»
Jüdische Studentinnen und Studenten haben sich in einem viel beachteten Brief an die akademische Community gewandt. Mehr als 400 jüdische Studierende haben ihn unterzeichnet. Nachfolgend ist der Brief in der Übersetzung aus dem englischen Original.
In unserem Namen: Botschaft der jüdischen Studenten der Columbia University
An die Community der Columbia-Universität
In den letzten sechs Monaten haben viele in unserem Namen gesprochen. Einige sind wohlmeinende Ehemalige und andere, die vor den Toren unserer Universität die israelische Flagge schwenken. Einige sind Politiker, die das, was wir derzeit erleben, nutzen wollen, um Amerikas Kulturkrieg zu schüren. Vor allem aber sind es unsere jüdischen Kommilitonen, die sich als die Vertreter «echter jüdischer Werte» darstellen und versuchen, unsere gelebte Erfahrung mit Antisemitismus zu delegitimieren. Wir sind hier und schreiben Ihnen als jüdische Studentinnen und Studenten der Columbia University, als Studierende, die mit unserer Gemeinschaft verbunden und mit unserer Kultur und Geschichte verflochten sind. Wir möchten in unserem Namen sprechen.
Viele von uns sitzen im Unterricht neben euch. Wir sind euer Partner im Labor, eure Studienfreunde, Kommilitonen und Freunde. Wir sind in der gleichen Studentenvertretung, den gleichen Clubs, den gleichen Studentenschaften, den gleichen Freiwilligenorganisationen und den gleichen Sportteams wie ihr.
Die meisten von uns haben sich nicht dazu entschlossen, politische Aktivisten zu werden. Wir sind nicht laut und skandieren keine eingängigen Slogans. Wir sind ganz normale Studenten, die nur versuchen, die Abschlussprüfungen zu bestehen, genau wie der Rest von euch. Diejenigen, die uns unter dem Deckmantel des Antizionismus dämonisieren, haben uns zu unserem Aktivismus gezwungen und uns gezwungen, unsere jüdische Identität öffentlich zu verteidigen.
Wir glauben mit Stolz an das Recht des jüdischen Volks auf Selbstbestimmung in unserem historischen Heimatland als grundlegenden Bestandteil unserer jüdischen Identität. Im Gegensatz zu dem, was viele versucht haben, euch zu verkaufen - nein, das Judentum kann nicht von Israel getrennt werden. Der Zionismus manifestiert sich, einfach ausgedrückt, als diese Überzeugung.
In unseren religiösen Texten finden sich zahlreiche Hinweise auf Israel, Zion und Jerusalem. Das Land Israels beherbergt mannigfaltige archäologische Überreste einer jahrhundertelangen jüdischen Präsenz. Obschon das jüdische Volk seit Generationen im Exil und in der Diaspora auf der ganzen Welt lebt, hat unser Volk nie aufgehört, davon zu träumen, in sein Heimatland zurückzukehren - nach Judäa, dem Ort, von dem sich unser Name «Juden» herleitet. Noch vor wenigen Tagen haben wir unsere Pessach-Seders wie traditionell mit dem Wunsch beendet: «Nächstes Jahr in Jerusalem!»
Viele von uns sind nicht religiös, aber der Zionismus bleibt tragendes Element unserer jüdischen Identität. Wir wurden aus Russland, Libyen, Äthiopien, dem Jemen, aus Afghanistan, Polen, Ägypten, Algerien, Deutschland, dem Iran und vielen weiteren Ländern vertrieben. Wir fühlen uns mit Israel nicht nur als Heimat unserer Vorfahren verbunden, sondern auch als dem einzigen Ort in der modernen Welt, an dem Juden ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Die Erfahrungen, die wir in den letzten sechs Monaten an der Columbia gemacht haben, haben uns genau dies erneut eindringlich bewusst gemacht.
Wir sind mit den Erzählungen unserer Grosseltern über Konzentrationslager, Gaskammern und ethnische Säuberungen grossgeworden. Hitlers Antisemitismus bedeutete im Kern, dass wir «nicht europäisch» genug, dass wir als Juden eine Bedrohung für die «überlegene», arische Rasse waren. Diese Ideologie resultierte im Tod von sechs Millionen Menschen unseres Volks.
Die bittere Ironie des heutigen Antisemitismus ist die Verdrehung unseres Holocaust-Erbes; die Demonstranten auf dem Campus haben uns entmenschlicht, indem sie uns das Emblem «weisse Kolonialisten» aufdrücken. Man hat uns gesagt, dass wir «die Unterdrücker Menschen dunkler Hautfarbe» seien, und dass «der Holocaust nichts Besonderes war». Studenten an der Columbia University haben skandiert: «Wir wollen keine Zionisten hier», «Tod dem zionistischen Staat» oder «Geht zurück nach Polen», wo unsere Verwandten in Massengräbern liegen.
Diese kranke Verzerrung verdeutlicht das Wesen des Antisemitismus: In jeder Generation wird das jüdische Volk als Sündenbock für das gesellschaftliche Übel der jeweiligen Zeit verantwortlich gemacht. Im Iran und in der arabischen Welt wurden wir wegen unserer vermeintlichen Verbindungen zum «zionistischen Gebilde» ethnisch gesäubert. In Russland mussten wir staatlich geförderte Gewalt ertragen und wurden schliesslich dafür massakriert, Kapitalisten zu sein. In Europa wiederum wurden wir Opfer eines Völkermords, weil wir Kommunisten und nicht europäisch genug gewesen seien. Und heute werden wir beschuldigt, zu europäisch zu sein und als schlimmstes Übel der Gesellschaft dargestellt – als Kolonialisten und Unterdrücker. Wir werden attackiert dafür, weil wir glauben, dass Israel – unser angestammtes und religiöses Heimatland – ein Recht auf Existenz hat. Wir werden von jenen ins Visier genommen, die das Wort Zionist als besseres Schimpfwort für Jude missbrauchen, gleichbedeutend mit rassistisch, unterdrückerisch oder völkermordend. Wir wissen nur zu gut, dass der Antisemitismus sein Antlitz ändert.
Wir sind stolz auf Israel. Als einzige Demokratie im Nahen Osten ist Israel die Heimat von Millionen von Mizrachi-Juden (Juden nahöstlicher Abstammung), aschkenasischen Juden (Juden mittel-und osteuropäischer Abstammung) und äthiopischen Juden sowie von Millionen arabischer Israelis, über einer Million Muslimen und Hunderttausenden von Christen und Drusen. Israel ist ein Wunder für das jüdische Volk und für den Nahen Osten insgesamt.
Unsere Liebe zu Israel bedeutet nicht blinde politische Konformität. Es ist genau das Gegenteil. Für viele von uns ist es unsere tiefe Liebe zu und unser Engagement für Israel, das uns antreibt, Einspruch zu erheben, wenn die israelische Regierung auf eine Art und Weise handelt, die wir als problematisch erachten. Politische Meinungsverschiedenheiten in Israel sind von Natur aus zionistisch. Um zu verstehen, für welches Israel wir kämpfen, reicht der Blick auf die Proteste gegen Netanjahus Justizreformen - von New York bis Tel Aviv. Das eine und andere Gespräch bei einem Kaffee mit uns würde genügen, um zu realisieren, wie sehr sich unsere Visionen für Israel voneinander unterscheiden. Und doch sind wir getragen von Liebe und der Hoffnung, dass das Leben der Israelis und Palästinenser gleichermassen in eine bessere Zukunft führt.
Wenn uns die letzten sechs Monate auf dem Campus etwas gelehrt haben, dann, dass ein grosser und lautstarker Teil der Columbia-Community die Bedeutung des Zionismus nicht versteht und folglich auch nicht das Wesen des jüdischen Volks. Trotz der Tatsache, dass wir den Antisemitismus anprangern, den wir seit Monaten erleben, wurden unsere Bedenken abgetan und als nichtig erklärt. Hier sind wir deshalb, um euch daran zu erinnern:
Wir haben am 12. Oktober Alarm geschlagen, als viele gegen Israel protestierten, während die Leichen unserer Freunde und Familien noch warm waren.
Wir sind zurückgeschreckt, als die Leute «Widerstand mit allen Mitteln» schrien und uns sagten, wir «betrieben alle Inzucht» und hätten «keine Kultur».
Wir erschauderten, als ein «Aktivist» ein Schild hochhielt, auf dem stand, dass jüdische Studenten die nächsten Ziele der Hamas seien, und wir schüttelten ungläubig den Kopf, als Sidechat-Nutzer uns sagten, wir würden lügen.
Wir waren nicht überrascht, als ein Anführer des CUAD-Lagers (Anm. der Redaktion: Columbia University Apartheid Divest) öffentlich und stolz meinte, dass «Zionisten es nicht verdienen zu leben» und dass wir Glück hätten, dass sie «nicht einfach losziehen und Zionisten ermorden» würden.
Wir fühlten uns hilflos, als wir beobachteten, wie Studenten und Dozenten jüdische Studenten physisch daran hinderten, Teile des Campus zu betreten, den wir gemeinsam nutzen, oder als sie sogar schweigend ihr Gesicht abwandten. Dieses Schweigen ist uns nur zu gut vertraut. Wir werden nie vergessen.
Aber eines ist sicher. Wir werden nicht aufhören, für uns selbst einzutreten. Wir sind stolz darauf, Juden zu sein, und wir sind stolz darauf, Zionisten zu sein.
Wir sind an die Columbia gekommen, weil wir unseren Horizont erweitern und uns an komplexen Diskussionen beteiligen wollten. Auch wenn der Campus heute von hasserfüllter Rhetorik und einer simplifizierender Schwarz-und-Weiss-Sicht durchzogen ist, ist es nie zu spät, die Risse zu kitten und sinnvolle Beziehungen über politische und religiöse Grenzen hinweg aufzubauen. Unsere Tradition sagt uns: «Liebt den Frieden und strebt nach Frieden». Wir hoffen, dass ihr euch uns anschliessen werdet, um ernsthaft nach Frieden, Wahrheit und Empathie zu streben. Gemeinsam können wir unseren Campus wieder aufbauen.
© Englischsprachigen Originaltext mit allen Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern