Auch in Israel ist Jude nicht gleich Jude

Der Teilungsbeschluss der UNO aus dem Jahr 1947 definiert Israel als Staat für die Juden. Und in der israelischen Unabhängigkeitserklärung, mit der David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den israelischen Staat ausrief, nimmt das Judentum eine zentrale Rolle ein.

Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheinen mag. Denn der moderne Zionismus, der im 19. Jahrhundert entstand und die treibende Kraft für die Gründung eines unabhängigen jüdischen Staates war, war eine säkulare Bewegung. Es gab zwar religiöse Zionisten. Aber Theodor Herzl, der Vater des modernen Zionismus, und die Mehrheit der Delegierten der Zionistenkongresse, an denen seit 1897 auf einen unabhängigen jüdischen Staat in Palästina hingearbeitet wurde, waren sehr säkulare Juden.

Das hat sich bis heute nicht geändert. Dem israelischen Statistikbüro zufolge lebten Ende 2022 in Israel 7,1 Millionen Juden[i]. Gemäss eigener Beurteilung sind davon:

49% säkular
29% traditionell
13% modern-orthodox
9% ultra-orthodox (haredisch).

Dies ergab eine Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center. Die Umfrage stammt zwar von 2014/15 und ist also älter als die neuesten offiziellen Statistikdaten zur Bevölkerungszahl. Aber die Grundaussage der Umfrage dürfte immer noch gültig sein.

Konflikte programmiert

Die unterschiedliche Bedeutung, welche die Religion für die säkularen und traditionellen Juden (zusammen 78%) auf der einen Seite hat, und die Bedeutung der Religion für die modern-orthodoxen und ultra-orthodoxen Juden (zusammen 22%) auf der anderen Seite, birgt sowohl im Alltag als auch in der Politik Konfliktpotenzial.

Das beginnt bei den Vorschriften für den öffentlichen Verkehr, der an den meisten Orten in Israel am Schabbat (d. h. von Freitagabend bis Samstagabend) nicht in Betrieb ist, weil Fahren gemäss jüdischem Religionsgesetz verboten ist. Und es geht hin bis zur Frage, ob orthodoxe Juden gegen ihren Willen zum Militärdienst gezwungen werden können.

Der oberste Gerichtshof Israels bejahte dies 2017 in einem Grundsatzentscheid. Es forderte deshalb Regierung und Parlament auf, eine Bestimmung abzuändern, die aus der Zeit der Staatsgründung stammte und orthodoxe Juden vom Armeedienst befreite. Dieser Gerichtsentscheid führte seinerzeit zu massiven Protesten im orthodoxen Teil der Bevölkerung und Auseinandersetzungen im Parlament. Dennoch gab es immer wieder orthodoxe Juden, die sich zum Wehrdienst meldeten. Sie fielen auf durch Kampfwillen, waren aber doppelt isoliert: in der Armee wegen ihrer Radikalität, in ihrer eigenen Gemeinde, weil sie Gebote verletzten und eine unangenehme Präzedenz schufen. Nach dem verheerenden Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 meldeten sich über 2‘000 orthodoxe Juden freiwillig zum Militärdienst.

Auch in der Politik ist die Spaltung zwischen säkular-traditionellen Juden einerseits und modern-orthodoxen sowie ultra-orthodoxen Juden andererseits ein Dauerthema. Dabei geht es auch um den Grundsatzentscheid, ob die staatlichen Gesetze den religiösen Vorschriften folgen sollten, was die orthodoxen Juden befürworten. Oder ob sie grundsätzlich säkular bleiben, so wie dies analog zu anderen westlichen Demokratien jetzt der Fall ist – und wie es die säkularen und traditionellen jüdischen Kreise fordern.

Zünglein an der Waage

Die orthodoxen und ultra-orthodoxen Juden machen zusammen zwar nur rund 20% der jüdischen Bevölkerung und sogar nur 15% der gesamten Bevölkerung Israels aus. Aber sie haben ein überproportionales politisches Gewicht. Dies hängt mit dem israelischen Wahlsystem zusammen. Denn bei den Wahlen ins israelische Parlament, die Knesset, beträgt die Hürde für die Parteien lediglich 3,4%.

Das hat eine starke Zersplitterung der politischen Kräfte zur Folge. Dies wiederum führt dazu, dass auch kleine orthodoxe und ultra-orthodoxe Parteien oft das Zünglein an der Waage sind, wenn es um die Bildung einer Regierungskoalition geht. Dank dieser Position sind die Parteien der orthodoxen und ultra-orthodoxen Juden immer wieder in der Lage, politische Zugeständnisse zu erzwingen. Auch wenn Israel ein säkularer Staat ist, so spielt doch in der israelischen Politik die Religion eine viel bedeutendere Rolle als in anderen westlichen Demokratien.       

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Die Bedeutung der Religion im Staat Israel | Israel | bpb.de

[i] Insgesamt belief sich die israelische Wohnbevölkerung Ende 2022 laut dem statistischen Amt auf 9,65 Millionen. Davon waren 7,1 Millionen Juden, 2,03 Millionen Araber und 0,51 Millionen gehörten einer anderen Bevölkerungsgruppe an.