Die Siedlungsproblematik und die Zwei-Staaten-Lösung
Behauptung
Der Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland ist schuld, dass es keinen Frieden zwischen Palästinensern und Israel gibt.
Die Fakten
Die jüdischen Siedlungen, die in den vergangenen fünfzig Jahren im Westjordanland und in Ostjerusalem gebaut wurden, sind nach internationalem Recht illegal und ein Hindernis für eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis. Aber sie sind nicht dessen Ursache. Der Ursprung des Konflikts liegt in der Weigerung der arabischen Staaten, das von der Uno vorgeschlagene Modell einer Zwei-Staaten-Lösung (mit einem jüdischen und einem palästinensischen Staat) anzuerkennen.
Diese Weigerung geht auf 1947 zurück – das Jahr, in dem die UNO den Teilungsplan beschlossen hat. Die ersten jüdischen Siedlungen im Westjordanland wurden hingegen erst mehr als zwanzig Jahre später errichtet, nachdem Israel im Sechstagekrieg von 1967 dieses Gebiet von Jordanien erobert hatte, zusammen mit dem Gazastreifen von Ägypten.
Dass ein Verzicht auf Siedlungen nicht unbedingt Frieden bringt, zeigt Gaza: Dort hat Israel bereits 2005 die eigenen Siedlungen geräumt und sich ganz aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Doch seither sieht sich der jüdische Staat mit andauernden Angriffen der in Gaza herrschenden Terrororganisationen Hamas und Islamic Jihad konfrontiert, bis hin zum Massaker vom 7. Oktober 2023.
Schon unmittelbar nach dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 begann Israel im früher von Jordanien besetzten Westjordanland (und auch auf den von Syrien eroberten Golanhöhen) mit dem Bau von Siedlungen. Dies befanden sich jenseits der sogenannten «Grünen Linie», welche im Waffenstillstand mit Jordanien als Grenze vereinbart worden war.
Militärische, politische und wirtschaftliche Gründe
Diese ersten Siedlungen hatten für Israel vor allem sicherheitsstrategische Gründe: Sie sollten das eigene Staatsgebiet im Falle eines weiteren Krieges absichern. Dementsprechend befanden sie sich in Grenznähe.
In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten wurde der Siedlungsbau auf immer grössere Teile des Westjordanlandes ausgedehnt, und auch in dem von den Jordaniern eroberten östlichen Teil von Jerusalem liessen sich jüdische Siedler nieder. Dies führte dazu, dass heute im Westjordanland gemäss jüngsten Erhebungen neben den 2.5 Millionen Palästinensern insgesamt 450‘000 Siedler leben. In Ostjerusalem leben 435‘000 Palästinenser und 220‘000 Juden.
Beim frühen Siedlungsbau hatten militärische und sicherheitspolitische Gründe eine vorrangige Rolle gespielt. Bei den später erbauten und heutigen Siedlungen standen und stehen vor allem religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte im Vordergrund. So zogen im Verlauf der Jahre immer mehr orthodoxe Siedler ins Westjordanland, denn dieses ist das biblische Judäa und Samaria, zwei traditionelle Heimstätten der Juden.
Auch bei der bereits 1968 erfolgten (Wieder-)Besiedlung von Hebron spielten religiöse Aspekte die vorrangige Rolle. Denn in Hebron befindet sich das Grab Abrahams. Bis 1929 von den dort ansässigen Arabern ein Pogrom verübt wurde, bei dem über 100 Juden ermordet wurden und die anderen flüchten mussten, lebten immer Juden in der gemäss heutigem Forschungsstand 300 v. Chr. erbauten und seither stets bewohnten Stadt.
Neben religiösen Gründen spielen auch wirtschaftliche Überlegungen oft eine Rolle, dass Israelis sich dafür entscheiden, ins Westjordanland überzusiedeln. Denn der dortige Wohnraum wird subventioniert und ist deshalb deutlich billiger als in Israel selbst.
Es waren aber in erster Linie politische Erwägungen, welche insbesondere die politisch rechtsstehenden israelischen Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten dazu bewogen haben, viele Siedlungsprojekte zu bewilligen.
Mit der Vielzahl neuer Siedlungen und hängiger Siedlungsbauprojekte sollen vollendete Tatsachen geschaffen werden, um die von der UNO 1947 beschlossene Zwei-Staaten-Lösung zu verunmöglichen. Dies, obschon die Zwei-Staaten-Lösung damals und auch später – insbesondere im 1993 begonnenen Osloer Friedensprozess mit der PLO – von israelischer Seite gutgeheissen worden war.
Immer wieder kommt es deshalb auch zu gewaltsamen, oft tödlich verlaufenden Auseinandersetzungen zwischen den im Westjordanland lebenden Palästinensern und den jüdischen Siedlern. Während diese Attacken früher meistens nur von palästinensischer Seite ausgingen, mehren sich die jüngster Zeit Angriffe von ultranationalistischen und religiösen Siedlern auf die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland.
Rechtslage ist umstritten
Die Rechtslage der jüdischen Siedlungen im Westjordanland ist umstritten. UNO, Europäische Union und Internationaler Gerichtshof erachten den Siedlungsbau im Westjordanland und in Ostjerusalem als illegal und haben dies in der Vergangenheit in verschiedenen Resolutionen und Entscheiden verurteilt.
Begründet wird dies mit dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten von 1949. Dort wird in Artikel 49/Absatz 6 festgehalten: «Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.»
Die israelische Regierung beurteilt die Situation anders und argumentiert auf der Basis eines von ihr Auftrag gegebenen Gutachtens («Levy-Report» von 2012), dass dieser Artikel des Genfer Abkommens im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung komme, weil es sich beim Westjordanland und Ostjerusalem nicht um «besetztes Gebiet» handle. Diese Auffassung wird international indessen nicht geteilt.
Auch der Oberste Gerichtshof Israels vertritt nicht vorbehaltlos die Position der israelischen Regierung. Das Oberste Gericht hat sich in der Vergangenheit zwar nicht grundsätzlich gegen den Siedlungsbau im Westjordanland ausgesprochen. Es hat aber immer wieder Siedlungsprojekte und Enteignungen palästinensischer Landbesitzer, die von der Regierung bewilligt worden waren, für illegal erklärt.
Dr. Einat Wilf, ehemaliges Mitglied der Knesset, in der ILTV-Sendung «Israel Weekly» über die Frage, ob die israelischen Siedlungen eine Zwei-Staaten-Lösung verhindern.
Hindernis auf dem Weg zur Zwei-Staaten-Lösung
Wie vor allem von den ultranationalistischen und religiösen israelischen Politikern beabsichtigt, bedeutet die Vielzahl der mittlerweile existierenden Siedlungen mit nahezu einer halben Million jüdischer Bewohner ein gravierendes Hindernis für die Schaffung eines das Westjordanland und Gaza umfassenden palästinensischen Staates – so wie es die Zwei-Staaten-Lösung von 1947 vorsieht.
In der Vergangenheit gab es aber mehrfach Versuche, diese Lösung trotzdem zu realisieren. 2000/2001 fanden unter dem Patronat von US-Präsidenten Bill Clinton Friedensverhandlungen zwischen der PLO und Israel statt. Die israelische Regierung willigte dabei in einen Vorschlag eines eigenständigen palästinensischen Staates ein, der ganz Gaza und 94–96 % des Territoriums des Westjordanlands umfasst hätte.
Bis zu drei Prozent des fehlenden Territoriums wären gemäss dem Friedensplan von Israel durch die Abtretung von eigenem Gebiet kompensiert worden. Damit hätte eine Landbrücke zwischen dem am Mittelmeer gelegenen Gaza und dem im Landesinneren gelegenen Westjordanland geschaffen werden sollen. Dadurch hätte der palästinensische Staat auch territorial eine Einheit gebildet. Doch der damalige Palästinenserpräsident Jassir Arafat lehnte den Vorschlag ab.
2008 scheiterte ein weiterer Versuch, die Zweistaatenlösung trotz der Siedlerproblematik zu realisieren. Der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert präsentierte einen Plan, der vorsah, dass die Palästinenser Israel 6.3% ihres Gebietes überlassen sollten. Damit hätten 80% der jüdischen Siedler ins israelische Kernland integriert werden können. Aus Gaza hatten sich die Israelis schon 2005 zurückgezogen und alle ihre dortigen Siedlungen geräumt.
Als Gegenleistung sollten die Palästinenser 5.8% des israelischen Staatsgebietes erhalten. Und wie schon von US-Präsident Clinton und dem damaligen israelischen Ministerpräsident Ehud Barak 2001 vorgeschlagen, sollte eine Landbrücke dafür sorgen, dass aus Gaza und dem Westjordanland ein zusammenhängender Staat entstehen konnte. Doch auch Arafats Nachfolger als palästinensischer Präsident, Mahmud Abbas, erteilte dem israelischen Friedensplan eine Absage.
Da rund 80% der heute im Westjordanland lebenden israelischen Siedler in fünf grossen Blöcken konzentriert sind, glauben Experten, dass eine Zweistaatenlösung immer noch möglich ist. Der derzeitige Krieg in Gaza hat dazu geführt, dass sowohl die USA als auch die Europäische Union wieder entschieden auf eine solche Lösung drängen.
Wunschdenken und Wirklichkeit
In der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 27. Januar 2024 schreibt dazu Peter Rasonyi, der Leiter des Auslandressorts: «Die USA und die EU fordern einen palästinensischen Staat. Sie liegen damit auf der richtigen Seite der Moral und der falschen Seite der Realität.»
Europa und die USA würden mit ihren Forderungen nach einer sofortigen Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung die realen politischen Begebenheiten in Nahost ausblenden, kritisiert Rasonyi. Wenn die USA und EU ihre Forderung nach einem eigenständigen palästinensischen Staat ernst meinen, dann müssten sie zuerst die dafür notwendigen Voraussetzungen schaffen.
Dies bedeute in erster Linie, sie müssten für die Sicherheit Israels sorgen, schreibt der NZZ-Auslandchef. Denn nur wenn diese garantiert sei, könne Israel davon überzeugt werden, die Kontrolle über die palästinensischen Gebiete aufzugeben. «Eine erzwungene Gründung eines palästinensischen Staates gegen den Willen Israels, wie sie Borrell (der für Aussen- und Sicherheitspolitik zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Red.) suggerierte, ist völlig abwegig.»