26. November 2025
Der Westen hasst Israel als Symbol seiner selbst
Ausgehend von der politischen Linken hat sich im Westen ein schlechtes Gewissen über die eigene Geschichte und eigenen Errungenschaften breitgemacht. Der daraus resultierende Selbsthass zeigt sich nirgends so deutlich wie im Umgang mit Israel.
Von Jan Kapusnak
Warum bricht im Westen Empörung aus, wenn Israel sich gegen genozidal vorgehenden Terrorismus verteidigt, während es weitgehend still bleibt angesichts von Massakern in Syrien, den Hinrichtungen von Dissidenten in Iran oder der systematischen Entmündigung der Frauen in Afghanistan?
Warum marschieren Zehntausende mit palästinensischen Flaggen durch europäische Hauptstädte, während kaum jemand ein Wort verliert, wenn die Hamas brutal Palästinenser hinrichtet, die der «Zusammenarbeit» mit Israel verdächtigt werden?
Warum wird in Gaza von «Genozid» gesprochen – selbst nach einem Waffenstillstand, der von westlichen Aktivisten scharf eingefordert wurde –, während Hungersnöte und Massenverbrechen in Jemen, im Sudan und anderswo kaum ein Aufmucksen hervorrufen?
Warum wird Israel – ein demokratischer Staat, umgeben von feindlichen Regimen – in seinem Agieren mikroskopisch genau untersucht, während die Verbrechen der Tyranneien dieser Welt oft unbeleuchtet bleiben?
Die Antwort liegt weniger im Nahen Osten als in der kulturellen und moralischen Pathologie des modernen Westens begraben.
Ein Wohlstandsphänomen
Der Begriff «Oikophobie» – aus dem Griechischen «oikos» (Haus) – bringt es auf den Punkt: die irrationale Herabsetzung der eigenen Zivilisation. Zunächst populär gemacht vom britischen Philosophen Roger Scruton, beschreibt der Begriff eine Pathologie, in der Selbstkritik in Selbstverachtung umschlägt.
Während sich Xenophobie gegen das Fremde richtet, verachtet Oikophobie das Vertraute. Sie gedeiht in wohlhabenden, stabilen Gesellschaften, wo Komfort Schuldgefühle erzeugt und Eliten Selbstkritik mit Tugend verwechseln.
Dieses Phänomen hat historische Vorläufer, vom klassischen Athen und Rom bis zum Frankreich der Aufklärung und zum viktorianischen Grossbritannien. Das Ergebnis ist nicht Demut, sondern Selbsthass – die Überzeugung, dass die eigene Kultur einzigartig korrumpiert sei. Eine verdrehte Grössenphantasie. Und natürlich kommen die anderen Kulturen im Vergleich dazu unschuldig daher.
Dieser Selbsthass ist zum emotionalen Kern der westlichen progressiven Linken geworden. Als die ökonomischen Utopien des 20. Jahrhunderts – Marxismus und Realsozialismus – unter Zwang, Korruption, Ineffizienz und Dysfunktionalität zusammenbrachen, gaben ihre Anhänger den Glauben keineswegs auf; sie lenkten ihn um. Der revolutionäre Impuls überlebte, doch das Ziel verschob sich: vom Hass auf den Kapitalismus hin zu einer vernichtenden Kritik der westlichen Tradition.
Wo die alte Linke wirtschaftliche Ausbeutung verurteilte, verdammt die neue Linke die Zivilisation selbst. Der Feind ist nicht länger das «bürgerliche Kapital», sondern das «Weisssein», der «Kolonialismus» und die «westliche Hegemonie». Zentral für diese Weltanschauung ist die Überzeugung, dass der auf der «weissen» Kultur basierende Westen für mehr oder weniger alles Böse der Welt verantwortlich sei und dass dieses Böse alles Gute überschatte, das Zweifel an dieser Verdammnis aufkommen lassen könne.
Die westliche Geschichte wird als Verzeichnis von Verbrechen neu interpretiert, fast ausschliesslich durch die Brille der Schuld: von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus. Statuen werden gestürzt, Nationalsymbole diffamiert, Bildungssysteme umgestaltet, um Busse zu tun.
Paradoxerweise setzt die radikale Linke westliche Ideale als Waffen gegen den Westen selbst ein. Vernunft, Gleichheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit – geboren aus der abendländischen Aufklärung – werden als Instrumente westlicher Herrschaft umgedeutet.
Wenn die Linke von Gerechtigkeit spricht, meint sie oft Rache – nicht Fairness, sondern Vergeltung im Tarnanzug der Tugend. Das Ergebnis ist eine berauschende moralische Erzählung: Der Westen sündigt, andere leiden, Erlösung liegt in endloser Busse und der Aussicht auf Vergebung. Moralische Selbstgeisselung ist heutzutage zu einer Art säkularer Religion geworden – einer Religion des schlechten Gewissens.
Rechtschaffen und radikal
Was erklärt, warum der Hass auf Tradition im Westen so gnadenlos auf den Westen allein konzentriert ist? Er resultiert aus einer Verschiebung des moralischen Fokus – von Individuen und Wirtschaftsklassen hin zu vermeintlichen Rassen- und Ethniegruppen. Die moderne Linke teilt die Menschheit in Opfer und Unterdrücker, was die westliche Zivilisation in einzigartiger Weise schuldig erscheinen lässt.
Dabei verwandelt sich der Wunsch, historisch Benachteiligten nachträglich zu ihrem Recht zu verhelfen, leicht in Doppelmoral. Es gilt als verwerflich, betroffene Gruppen im Rahmen historischer Gegebenheiten für ihre schlechte Lage mitverantwortlich zu machen. Um die eigene Schuld zu akzentuieren, werden andere Kulturen systematisch entlastet, und Kritik an ihnen wird als Rassismus stigmatisiert. Die Denunziation der eigenen Kultur garantiert sicheren moralischen Mehrwert.
Nirgendwo zeigt sich der Selbsthass des Westens deutlicher als in seinem Umgang mit Israel. Für weite Teile der radikalen Linken stellt Israel alles dar, was sie verabscheuen: eine kleine, aber erfolgreiche westlich-demokratische Gesellschaft, technologisch fortschrittlich, militärisch wehrhaft, national geschlossen und selbstbewusst in ihrer Identität.
Eine perfekte Zielscheibe, um Selbsthass nach aussen zu projizieren. Der jüdische Staat wird zum Blitzableiter für Sünden der eigenen Imperial- und Kolonialzeit. Hass eskaliert in absurden Nazivergleichen und Apartheidvorwürfen. Wenn Juden sich wehren, können sie nichts anderes als Völkermord üben. Israel-Kritik wird zum Tugendtheater der Dämonisierung, das es dem Westen erlaubt, Busse zu tun, indem er den jüdischen Staat verteufelt.
Verflochten mit kulturellem Selbsthass, spielt ein unseliges Erbe mit herein, das die Sowjetunion überdauert hat. Während des Kalten Krieges stellte Moskau Zionisten als koloniale, rassistische Aggressoren und Palästinenser als ihre unschuldigen Opfer dar. Der Konflikt wurde Teil eines breiteren «Krieges gegen den Westen», einer Erzählung, die sich tief in der «progressiven» Politik verankerte. Arafats PLO wurde trotz der Unzahl der von ihr verübten Terrorakte zum moralischen Kompass der radikalen Linken, das Credo des Antiimperialismus der Dritten Welt schien noch die abscheulichste Form von Gewaltausübung zu rechtfertigen.
Israels existenzieller Krieg gegen die sich unter der Zivilbevölkerung von Gaza verschanzt haltende, genozidal vorgehende Terrororganisation Hamas hat die bisher wohl grösste globale politische Welle des 21. Jahrhunderts erzeugt: die propalästinensische Bewegung, die sich auf den Strassen westlicher Metropolen, aber auch auf Social Media austobt.
Was sich als Kampf für Gerechtigkeit ausgibt, sorgt sich weniger um das Leiden der realen Kriegsopfer als um die plakative Darstellung eigener moralischer Überlegenheit. Demonstranten führen Parolen im Munde, die sie kaum verstehen, und reduzieren einen komplexen Konflikt auf ein Zerrbild von brutalem Täter und unschuldigem Opfer.
Nur wenige der zumeist jungen Protestler verfügen über das historische Wissen, dass die jüdische Bevölkerung im nahöstlichen Raum vor und nach der Gründung des Staates Israels unablässig jihadistischem Terror ausgesetzt war. Sie haben keine Ahnung davon, dass die palästinensische Führung ernsthafte Friedensangebote noch und noch abgelehnt hat. Das Angebot «Frieden für Land» wiesen sie in der wahnhaften Hoffnung zurück, dereinst, nach der erfolgreichen Vertreibung der Juden, das ganze Land zu bekommen. Der Slogan «From the river to the sea» wird skandiert, ohne dass man begreift, dass dieser die Vernichtung Israels fordert.
Beliebte These der Notwehr
In der Doktrin der radikalen Linken verlangt kultureller Relativismus, dass keine Gesellschaft inhärente Überlegenheit beanspruchen darf. Konkret bedeutet dies, dass der Westen – und insbesondere Israel – einen nahezu unmöglichen Standard moralischer Reinheit erfüllen muss, der indes auf nichtwestliche Akteure kaum je angewendet wird. Jede militärische Operation gilt als barbarisch; jeder Akt der Verteidigung verstösst gegen Völkerrecht, und Krieg, sei er noch so «gerecht», ist als solcher illegitim.
In scharfem Kontrast dazu wird blindwütige Gewalt von terroristischen Gruppen, die für die Unterprivilegierten dieser Welt zu kämpfen vorgeben, zur Notwehr umgedeutet. Die Philosophin Judith Butler etwa legitimierte das Massaker vom 7. Oktober als Akt «bewaffneten Widerstands». Die gezielte und intendiert grausame Tötung von Zivilisten durch die Hamas, ihr zynischer Einsatz von Menschen als Schutzschilde sowie ihr systematischer, die Entwicklung von Wohlstand und Zivilgesellschaft sabotierender Aufbau von Terrorinfrastruktur erscheinen so von innerer Notwendigkeit.
Diese moralische Verdrehung offenbart die wahre Natur der «Free Palestine»-Bewegung. Die Romantisierung der Hamas-Gewalt, die Parole «End Zionism» sowie die den Waffenstillstand vom Oktober überdauernde überschäumende Empörung – nichts davon hat wirklich mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse in Gaza zu tun.
Westliche Schuldgefühle sind zu einer politischen Religion geworden – und nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als in der Migrationspolitik. Illegal Einreisende werden als «Flüchtlinge» in grosser Zahl aufgenommen und kaum je zurückgeschickt. Man kann dies als pragmatisch oder mitfühlend bezeichnen, aber es ist vor allem bussfertig. Epische Schuldgefühle und kultureller Masochismus erweisen sich als Motor grossangelegter illegaler Einwanderung: Ein grosser Teil der Eliten glaubt, die Zeit sei gekommen, um für vergangene Sünden zu bezahlen, selbst wenn dies die eigene Gesellschaft beschädigt.
Neu angekommene Migranten, insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern, schliessen sich der radikalen Linken oft an. Lautstarke und aggressive Strassenproteste haben den Zweck, Regierungen zu propalästinensischen Positionen zu drängen. Im September erkannte der französische Präsident Emmanuel Macron Palästina als Staat an, obwohl kaum eine der formalen Bedingungen dafür erfüllt war.
Ein gefundenes Fressen
Islamistische Bewegungen verstehen den westlichen Hang zum Selbsthass mit traumwandlerischer Sicherheit auszunutzen. Sie halten das westliche Gewissen ständig auf der Anklagebank und füttern die heisslaufende mediale Empörungsmaschine mit immer neuen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», die Israel angeblich begangen haben soll. Zynisch zweckentfremdete Begriffe wie «Genozid», «Apartheid» oder «Kolonialismus» heizen den Diskurs weiter an. Indem sie liberale Demokraten davon zu überzeugen vermögen, dass Selbstverteidigung unmoralisch sei, führen Islamisten einen psychologischen Krieg, der wirksamer ist als jede militärische Offensive.
Die Konvergenz ist frappierend. Die radikale Linke und der islamistische Extremismus vereinigen sich in militanter Feindschaft gegenüber Israel und dem Westen. Die eine Seite instrumentalisiert Schuld, die andere Toleranz. Gemeinsam verstärken sie Empörung, Polarisierung und politische Instabilität. Ihr keineswegs verborgenes, sondern offen verkündetes Ziel, die «globalisierte Intifada» (sprich: der Jihad), bedeutet nicht weniger als die Zerstörung des Westens.
Dem Diskurs über Gaza ist eine eigene Dynamik entsprungen. Liberale westliche Eliten, die gegenüber totalitären Versuchungen eigentlich immun sein sollten, schliessen sich dem extremistischen Gerede an – aus Furcht, als «Rassisten» oder «Islamfeinde» abgestempelt zu werden. Dabei besteht ein klarer Unterschied zwischen echtem Rassismus und der Ablehnung zutiefst zerstörerischer Überzeugungen, Haltungen und Ziele. Die westliche Welt hat sich unter dem Einfluss breit gestreuter antisemitischer Propaganda bereits weit von ihrem moralischen Fundament entfernt – und die Zeit, den Kurs zu ändern, läuft ab.
Jan Kapusnak lebt als freier Autor in Tel Aviv und schreibt über den Nahen Osten, Israel und geopolitische Themen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der NZZ.
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