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«Wir in Israel wissen, dass diplomatische Mittel allein nicht immer reichen»

FokusIsrael.ch sprach mit Tibor Schlosser, dem neuen israelischen Botschafter in der Schweiz – von Sacha Wigdorovits

Abgemacht war ein Gespräch über Diplomatie für den Staat Israel in der heutigen Zeit. Aber als allererstes kommt Tibor Schlosser, der seit etwas mehr als einem Monat in der Schweiz residierende neue Botschafter des Staates Israel, auf ein Thema zu sprechen, das ihm, dem naturverbundenen Kibbuznik persönlich besonders wichtig ist: «Vor zwei Wochen bin ich auf den Gantrisch gewandert, und als ich auf dem Weg zum Gipfel war und mich umherschaute, da sagte ich mir: «Ja, jetzt bist du wieder in der Schweiz. Ausser Israel gibt es kein schöneres Land auf dieser Welt.»

Auch sonst sieht Tibor Schlosser viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern: «Wir sind beide nicht gross. Wir haben beide eine sehr heterogene Gesellschaft mit unterschiedlichsten Sprachen – hier sind es Deutsch, Französisch, Italienisch und Rumantsch, bei uns Hebräisch, Arabisch, Englisch und noch viele andere. Beide unsere Länder sind demokratische Staaten mit engen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zur EU und beide zeichnen sich aus durch eine grosse Innovationskraft.»

Dies seien sehr gute Voraussetzungen für die Schweiz und Israel, um eng zusammenzuarbeiten, meint der neue israelische Botschafter. «Allerdings braucht es dafür auch ruhigere Zeiten als jetzt. Doch ich hoffe, dass diese bald kommen.»

Das Wissen über die Schweiz hat sich Tibor Schlosser bereits vor 20 Jahren angeeignet. Denn von 2004 bis 2008 war er bereits einmal in unserem Land für den Staat Israel tätig. Damals in Genf, wo er vier Jahre für die israelische UNO-Mission arbeitete. «Ich war für mein Land der Verbindungsmann zum UNO-Menschenrechtsrat», sagt Tibor Schlosser. 

Das war keine einfache Aufgabe angesichts des Umstands, dass dieses Gremium notorisch anti-israelisch ist. Zur Illustration: Als einziges UNO-Mitglied ist Israel für jede Sitzung des Menschenrechtsrates als festes Traktandum vorgemerkt. Demgegenüber kommen Länder, die erwiesenermassen Menschenrechtsverletzungen am Laufmeter begehen, wie der Iran, Libyen, Nordkorea oder Afghanistan dort höchst selten oder gar nicht zur Sprache.

Entsprechend ernüchtert erinnert sich Schlosser denn auch an jene Zeit bei der UNO in Genf zurück. «Als ich meine Stelle antrat, da hoffte ich, beim Menschenrechtsrat zu erreichen, dass Israel in Zukunft gleich wie alle anderen Staaten behandelt wird», sagt er. «Aber dieser Traum ist bald geplatzt.»

Umso dankbarer ist er dafür, dass sein Land ihn diesmal als Botschafter nach Bern delegiert hat. Hier habe er sich gleich zuhause gefühlt, meint er. Dazu beigetragen hat unter anderem sein Antrittsbesuch bei Bundespräsidentin Karin Keller-Suter. «Sie war sehr freundlich und warmherzig», sagt Tibor Schlosser. «Ich spürte, wie ihr unsere Probleme nahegehen und wie entsetzt sie über den überall stark angestiegenen Antisemitismus ist.»

Erste Gespräche hatte der neue israelische Botschafter auch mit einzelnen Parlamentariern und mit Vertretern des Eidgenössischen Departements des Äusseren EDA. 

«Natürlich kamen angesichts der heutigen Situation und der Situation der Schweiz als einem neutralen Land auch Fragen zur Sprache, bei denen die Meinungen auseinander gingen und wir einen kritischen Dialog führten», sagt Schlosser. «Aber wir konnten trotzdem offen miteinander reden. Und ich spürte dabei auch Verständnis für das Dilemma in dem wir uns (in Bezug auf den Krieg in Gaza, Red.) befinden und für die Schwierigkeiten, mit denen wir uns konfrontiert sehen.»

Herr Botschafter, durch seinen Krieg in Gaza steht Israel im Westen immer öfters massiv in der Kritik. Was entgegnen Sie diesen Kritikern?

Tibor Schlosser: Wir kämpfen einen asymmetrischen Kampf gegen einen Gegner, der im Gegensatz zu uns die Genfer Menschenrechtskonventionen nicht unterzeichnet hat und nicht respektiert, aber sie zu seinen Gunsten ausnutzt. Weil er weiss, dass wir sie berücksichtigen wollen.

Wenn man die Bilder von Gaza anschaut mit den massiven Zerstörungen und der leidenden Bevölkerung, dann kommen Zweifel auf, ob Israel die Genfer Konventionen wirklich einhält.

Tibor Schlosser: Den Krieg gegen die Bilder können wir nur schwer gewinnen. Wie willst du einen Krieg der Bilder gewinnen, auf denen auf der einen Seite Soldaten und auf der anderen Seite Zivilisten, hinter denen sich oftmals Terroristen verstecken, gezeigt werden? Aber wir müssen den Krieg gegen Hamas fortsetzen, bis die letzte unserer Geiseln wieder zuhause ist. 

Viele vergessen das, wenn sie jetzt einen sofortigen Frieden fordern. (Anm. der Redaktion: Es befinden sich derzeit noch 48 israelische Geiseln in den Händen der Hamas und weiterer in Gaza operierender Terrororganisationen; 20 der Geiseln sollen noch am Leben sein.)

Versagt Israel mit seiner Aufklärungsarbeit im Westen?

Tibor Schlosser: Wir versuchen unser Möglichstes, um zu erklären, wie wir vorgehen und weshalb. Aber wenn das Gesundheitsministerium in Gaza, das von Hamas kontrolliert wird, irgendwelche Opferzahlen oder andere Anschuldigungen gegen uns veröffentlicht, dann werden diese von vielen westlichen Medien sofort ungeprüft übernommen. 

Unsere Überprüfung dieser Angaben braucht Zeit, und wenn wir uns dann später zu Zahlen oder anderen Behauptungen der Hamas äussern, dann interessiert das kaum noch jemanden. Aber es geht nicht anders, denn wir können uns nicht erlauben zu lügen. Bei der Gegenseite hingegen gehört Lügen zur Praxis.

Die Fortsetzung des Kriegs mit der von der Regierung angekündigten Eroberung von Gaza-Stadt stösst aber auch in Israel selbst auf immer massivere Kritik. In den letzten Wochen sind bis zu einer Million Menschen auf die Strasse gegangen und haben dagegen protestiert. Haben Sie Verständnis dafür?

Tibor Schlosser: Ich bin Kibbuznik (und gibt damit zu verstehen: Ich bin in einer basisdemokratischen Umgebung aufgewachsen, Red.). Natürlich verstehe ich das. Diese Spaltung der Gesellschaft ist für uns unheimlich schwierig, sie zerreisst unsere Herzen, von links bis rechts. Aber am Ende geht es um die Frage: Wie bringen wir alle unsere Geiseln wieder nach Hause, die lebenden wie die toten. Diese Frage ist enorm schwierig zu beantworten und ich bin froh, dass ich nicht derjenige bin, der dies entscheiden muss.

Die Kritik im Westen hat auch mit der israelischen Siedlungspolitik zu tun. Sie richtet sich vor allem gegen die rechtsextremen Mitglieder der Regierung wie Bezalel Smotrich von der nationalreligiösen zionistischen Partei und Itamar Ben-Gvir von der Partei Otzma Yehudit (Jüdische Macht). Beide fallen immer wieder mit radikalen Äusserungen auf. 

Tibor Schlosser: Israel ist eine Demokratie. Heute haben wir diese Regierung, morgen vielleicht eine andere. Den beiden Parteien, die Sie erwähnen, geht es darum, dass Juden ihrer Meinung nach überall leben dürfen, also auch in Judäa und Samaria (dem Westjordanland, Red.). Bei uns in Israel leben auch zwei Millionen Araber. Diesen geht es besser und sie geniessen mehr Freiheiten, als dies in irgendeinem arabischen Land der Fall wäre.

Wenn es nach den Vorstellungen von Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir geht, dann sollte Israel das Westjordanland annektieren. Dies widerspräche der Zwei-Staaten-Lösung, die von Israel offiziell immer noch mitgetragen wird. Was sagen Sie dazu?

Tibor Schlosser: Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir sind Politiker und Minister in der aktuellen Regierung, doch der politische Kurs wird weiterhin von Premierminister Benjamin Netanjahu bestimmt, der sich gegenüber solchen Plänen nicht geäussert hat. 

Für Israel hat in jedem Fall der Schutz seiner Bevölkerung oberste Priorität. Deshalb werden politische oder geopolitische Optionen stets in erster Linie aus einer sicherheitspolitischen Perspektive bewertet.

Kann die Schweiz etwas tun, um den Konflikt in Gaza zu beenden?

Tibor Schlosser: Die Hamas hätte diesen Krieg schon vor langem beenden können. Die Hamas hätte ihrer eigenen Zivilbevölkerung, die sie als Geisel hält, all dieses Leid ersparen können. Die Schweiz kann lediglich dazu beitragen, den Druck auf Hamas zu erhöhen, damit sie die Geiseln freilässt und die Macht in Gaza abgibt. Dann ist dieser Krieg zu Ende. 

Hamas darf nicht weiter an der Macht bleiben. Damit könnte die israelische Zivilgesellschaft nicht leben – und auch die arabischen Staaten wären damit nicht einverstanden. (Anm. der Redaktion: In einer gemeinsamen Erklärung hat die Arabische Liga am 30. Juli 2025 erstmals das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 verurteilt.)

Sie glauben, dass Hamas heute isoliert ist?

Tibor Schlosser: Ja. Hamas hat sich verrechnet. Sie glaubte, dass am 7. Oktober alle anderen Feinde Israels, vor allem die Hisbollah, Syrien, die Huthis in Jemen und der Iran selbst, Israel simultan angreifen würden. Aber das hat Gott sei Dank nicht stattgefunden.

Sie haben den Iran erwähnt. Im 12-Tage-Krieg im Juni dieses Jahres hat Israel dem Iran eine schwere militärische Niederlage zugefügt. Was hat sich dadurch langfristig im Nahen und Mittleren Osten verändert?

Tibor Schlosser: Solange die Mullahs regieren, wird sich im Iran selbst nichts verändern. Aber Israel hat in den letzten zwei Jahren durch erfolgreiche Selbstverteidigung eine bemerkenswerte Widerstandskraft gegen den Iran und gegen seine Gehilfen Hamas, Hisbollah und die Huthi gezeigt. Auch die arabischen Staaten sind nicht auf Seiten des Irans. 

Das iranische Regime hat wiederholt offen erklärt, Israel auslöschen zu wollen – und arbeitet daran, sich die dafür nötigen Mittel anzueignen. Daher muss unmissverständlich klar sein: Der Iran darf keine Atommacht werden.

Wird die Gefährlichkeit des Irans in Europa unterschätzt?

Tibor Schlosser: Das kann ich nicht beurteilen. Aber das Problem ist, dass man hier in Europa glaubt, alle Ziele immer mit Diplomatie allein erreichen zu können. Ein iranisches Atomprogramm wäre eine Gefahr für die Existenz Israels, weswegen wir in Israel wissen, dass Diplomatie mit Staaten wie dem Iran nicht ausreicht. Auch für uns ist Diplomatie wichtig. Aber manchmal braucht es eben auch den Einsatz von anderen Mitteln. 

Seit dem 7. Oktober hat in vielen europäischen Ländern der Antisemitismus massiv zugenommen, auch in der Schweiz. Was sagen Sie den Juden in unserem Land?

Tibor Schlosser: Der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz möchte ich sagen: Ihr seid nicht allein. Der Anstieg antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober, auch hier in der Schweiz, ist alarmierend und darf niemals toleriert werden. 

Die Schweizer Behörden, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und jeder Einzelperson, tragen die Verantwortung dafür, dass Jüdinnen und Juden offen und sicher leben können. Angriffe auf Jüdinnen und Juden sind Angriffe auf unsere gemeinsamen Werte von Demokratie und Menschenwürde – und gemeinsam müssen wir uns dagegenstellen.

Bedauerlicherweise habe ich den Eindruck, dass Kritik an Israel manchmal für ein bestimmtes Publikum als Vorwand dient, verborgenen Antisemitismus zu legitimieren und zum Ausdruck zu bringen.

Und was sagen Sie Juden, die hinter Israel stehen, aber nicht immer alle Entscheide der Regierung gut finden?

Tibor Schlosser: Jeder Jude, der die Existenz Israels unterstützt, hat meinen Respekt und meine Sympathie, unabhängig von seiner Haltung zur Regierung. Debatten und unterschiedliche Meinungen sind Teil der jüdischen Tradition und Kultur. Auch wenn ich die Ansichten von Kritikern unserer Regierung nicht teile, anerkenne ich ihr tiefes Engagement für den Staat Israel und schätze ihre Verbundenheit mit unserem Land.

Glauben Sie, dass die Schweiz bei der Bekämpfung des Antisemitismus zu wenig macht?

Tibor Schlosser: Nein, das würde ich nicht sagen. Beim Kampf gegen den Antisemitismus spielt auch die Meinungsäusserungsfreiheit eine Rolle. Ich bin grundsätzlich ein grosser Befürworter der Meinungsäusserungsfreiheit. Aber sie muss Grenzen haben und man muss dagegen kämpfen, dass diese nicht überschritten werden. (Anm. der Redaktion: In der Schweiz sind öffentliche antisemitische oder auch rassistische Aufrufe vom Strafgesetzbuch verboten.)

Die Bekämpfung von Antisemitismus ist ja nicht nur eine Aufgabe der Behörden. Was sagen Sie jedem einzelnen von uns – Juden wie Nicht-Juden – was wir dagegen tun können?

Tibor Schlosser: Antisemitismus hat im 21. Jahrhundert in Europa keinen Platz, Punkt. Es geht dabei nicht darum, ob man Israel politisch unterstützt oder nicht, sondern um die Werte demokratischer Gesellschaften und um persönliche Grundsätze. Tatsächlich ist es nicht nur die Aufgabe der jüdischen Gemeinschaften, diesen hässlichen Phänomenen entgegenzuwirken, sondern jeder, der in einer toleranten und friedlichen Gesellschaft leben möchte, ist dazu aufgerufen.

Wichtig ist, antisemitische Äusserungen im Alltag nicht unkommentiert zu lassen – immer unter Beachtung der eigenen Sicherheit. Bei Einschüchterung oder Gewalt ist es entscheidend, die Vorfälle den Schweizer Behörden zu melden, sonst bleiben die Täter straflos. Oftmals ist jedoch im Umgang mit Vorurteilen der Dialog die beste Lösung. Schon einfache Fragen wie „Warum denkst du das?“ können ein Gespräch eröffnen und dazu anregen, eigene Vorurteile zu reflektieren und zu hinterfragen.


Zur Person

Tibor Schlosser wurde 1961 in Rumänien geboren und immigrierte, als er sechs Monate alt war, mit seinen Eltern nach Israel. Er wuchs in Israel im Kibbuz Beit Guvrin und Rehovot auf und absolvierte anschliessend in Jerusalem und in Haifa ein Studium in Philosophie und Politikwissenschaften. Später absolvierte er auch die israelische Verteidigungshochschule und machte sein Doktorat in Geschichte an der Hebräischen Universität. Seine Tätigkeit im israelischen Aussenministerium begann er 1989 und war unter anderem in Berlin, Rom, München und Genf stationiert. Er war auch spezieller Gesandter für Holocaust-Angelegenheiten und Botschafter im Pazifik. Tibor Schlosser ist verheiratet, hat sechs erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder. Er spricht: Hebräisch, Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Ungarisch.

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