15. August 2025
Schluss mit naiver europäischer Besserwisserei
Von Sacha Wigdorovits
Vor einigen Monaten bin ich wegen des Kriegs in Gaza via Facebook von einem gewissen Paul (Name geändert) kontaktiert worden. Schweizer, Anfang Siebzig, früher in leitender Stellung beim Bund tätig. Inzwischen kommunizieren Paul und ich regelmässig auf Whatsapp, und wir haben uns auch schon einmal telefonisch unterhalten.
Was den Krieg in Gaza betrifft, gehen die Meinungen von Paul und mir so ziemlich diametral auseinander. Aber ich rechne es ihm hoch an, dass er sich viel Zeit nimmt, um sich ein Bild zu verschaffen (auch wenn es meiner Meinung oftmals falsch ist), dass er konstruktive, eigenständige Gedanken zur Konfliktlösung äussert und dass unsere Konversation immer sehr höflich und sachlich verläuft.
Paul ist ein grosser Kritiker Israels. Er findet zwar ebenfalls, dass Hamas von der Macht entfernt werden muss. Bloss habe dies anders zu geschehen, «als dabei Zehntausende von Frauen und Kindern zu töten und die zivile Infrastruktur in Schutt und Asche zu legen» (Paul).
Seiner Meinung nach sollte Israel «etwas Neues» versuchen: Zum Beispiel die Freilassung aller administrativ Festgehaltenen. Oder die Konstituierung eines gemischten Expertenrats zur zivilrechtlichen Gleichstellung von Juden und Arabern in Israel, Gaza und dem Westjordanland.
Paul schlägt vor, die Hamas dadurch zu isolieren, dass die im Westjordanland und in Gaza lebenden Palästinenser in die israelische Gesellschaft integriert werden. Für die ersten 10 oder 20 Jahre ohne politische Rechte, aber ansonsten gleichgestellt. Er ist sich sicher, dass die Palästinenser ein «arbeitsames, friedliebendes Volk sind», in dem der «Hass auf die Juden nicht dominant ist».
Um trotzdem die Existenz und Rechte der Juden in diesem Einheitsstaat zu sichern, in dem dann schätzungsweise neun bis zehn Millionen Palästinenser und lediglich rund sieben Millionen Juden leben würden, schlägt Paul für sie einen verfassungsmässig garantierten Minderheitenschutz vor.
Das alles ist Wunschdenken. Denn natürlich liesse sich damit das Problem nicht lösen, dass die Hamas so rasch als möglich eliminiert werden muss, um ihre Kontrolle über die Palästinenser in Gaza zu brechen und eine Wiederholung des 7. Oktober zu verhindern.
Zudem würde dieses Modell de facto auf nichts anderes hinauslaufen als auf die «from the river to the sea»-Lösung und Auslöschung des jüdischen Staates, welche auf unseren Strassen vor allem von Linken und Islamisten lautstark gefordert wird. (Paul gehört übrigens nicht dazu.)
Vor allem aber haben solche Vorschläge mit der Realität und den Mentalitäten im Nahen und Mittleren Osten rein gar nichts zu tun. Sie gehen davon aus, dass die Uhren dort gleich ticken wie bei uns in Europa. Aber das tun sie nicht.
Wer der Meinung ist, mit vernünftigen Argumenten, einem ausgewogenen Kompromissvorschlag und dem Glauben an das Gute im Menschen liessen sich die Probleme im Nahen und Mittleren Osten lösen, der träumt.
Eine solche Denkweise blendet die Jahrtausende alte Geschichte dieser Weltregion aus. Sie verkennt, dass diese Region immer noch viel archaischer funktioniert, als es bei uns heute in der Regel der Fall ist.
Kriege zwischen verschiedenen Kulturen, wie wir sie in Europa beispielsweise zwischen Römern und Germanen oder dann bei der Verteidigung des Christentums gegen die Mauren und später gegen die Osmanen kannten, sind im Nahen und Mittleren Osten nicht Geschichte. Sie sind Gegenwart.
Diese Region der Welt ist deshalb in einem viel grösseren Ausmass, als es bei uns heute meistens der Fall ist – und als viele bei uns wahrhaben wollen –, von gegenseitigem Misstrauen und Hass bestimmt. Dies gilt insbesondere auch für den in der muslimischen Gesellschaft seit deren Entstehung vor über 1400 Jahren fest verankerten Antisemitismus.
Denn der Judenhass im Islam geht direkt auf den Propheten Mohammed zurück und hat sich in all den Jahrhunderten immer wieder in muslimischen Pogromen geäussert. Lange bevor es den Staat Israel oder die Siedlungen in der Westbank gab.
Insofern entspricht es nur der Tradition, dass dieser Antisemitismus in palästinensischen TV-Kindersendungen und in Schulbüchern, bis heute propagiert wird. Mit gütiger finanzieller Unterstützung auch aus der EU und der Schweiz. Nicht bloss in Gaza, sondern auch in der Westbank.
Deshalb ist dieser Hass auf die Juden auch nicht nur in fanatischen Terror-Organisationen wie Hamas oder dem Islamischen Jihad verbreitet, wie bei uns vielfach behauptet wird. Er durchsetzt die ganze palästinensische Bevölkerung.
Solcher Hass verhindert nicht bloss eine nüchterne analytische Sicht der Dinge innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und ihrer Führer. Er erzeugt auch Gegenhass, wie er sich in jüngster Zeit in Israel bei den rechtsradikalen Parteien und ihren Supportern – insbesondere unter den Siedlern in der Westbank – immer offener manifestiert.
In Europa werden die politischen Auswirkungen dieses Phänomens völlig verkannt. Doch es liegt auf der Hand, dass in einem Umfeld, wo Hass und Misstrauen dominieren, nur überlebt, wer militärisch stark ist.
Bündnisse werden dort nicht geschlossen, weil man sich wie bei uns als eine «Wertegemeinschaft» fühlt. Bündnisse werden geschmiedet, wenn man sie als zweckmässig erachtet. Sei es aus politisch-militärischen, sei es aus ökonomischen Gründen – oder aus beidem.
Wenn wir unsere eigenen, von unseren Erfahrungen und Überzeugungen geprägten Denkmuster in den Nahen und Mittleren Osten exportieren wollen, um dort Frieden zu propagieren, ist das deshalb naiv, besserwisserisch und völlig nutzlos.
Dies sollten sich insbesondere jene europäischen Regierungen, Parteien und Politiker hinter die Ohren schreiben, die jetzt die Anerkennung von «Palästina» und sofortige Umsetzung der von der UNO 1947 beschlossenen Zweistaatenlösung fordern.
Denn das wird nicht geschehen.
Ja, irgendwann wird der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern am grünen Tisch gelöst werden. Wobei das Resultat dieser Verhandlungen heute nicht vorausgesagt werden kann.
Aber der von den Arabern abgelehnte UNO-Teilungsbeschlusses 1947, der gescheiterte gemeinsame Friedensplan von US-Präsident Bill Clinton und dem israelischen Ministerpräsident Ehud Barak 2000/2001, der einseitige, bedingungslose Rückzug Israels aus Gaza 2005, das Friedensangebot des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert an die Palästinenser 2008 und die jetzt durch den libanesischen Staat angekündigte Entwaffnung der Terrororganisation Hisbollah nach deren weitgehender Eliminierung durch Israel – sie alle zeigen: Frieden gibt es im Nahen Osten erst, wenn ein Konflikt militärisch gelöst und der Feind vernichtend geschlagen ist. Genau so, wie dies bei uns in Europa und in Japan 1945 der Fall war.
Dieser Beitrag erschien auch auf nebelspalter.ch: Nebelspalter | Schluss mit naiver europäischer Besserwisserei
Sacha Wigdorovits ist Präsident des Vereins Fokus Israel und Nahost, der die Webseite fokusisrael.ch betreibt. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte, Germanistik und Sozialpsychologie und arbeitete unter anderem als USA-Korrespondent für die SonntagsZeitung, war Chefredaktor des BLICK und Mitbegründer der Pendlerzeitung 20minuten.
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