18. Juli 2025
Netanjahus ungemütliche Situation
Von Sacha Wigdorovits[i]
Nach dem Austritt der beiden ultra-orthodoxen Parteien, Vereinigtes Thora-Judentum und Shas, aus seiner Regierung ist Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer ungemütlichen Situation.
Ohne die Ultra-Orthodoxen verfügt Netanjahu nur noch über eine Minderheitsregierung: Im israelischen Parlament, der Knesset, entfallen auf sie jetzt noch 50 der 120 Sitze. Auch wenn die beiden Parteien nach ihrem Regierungsaustritt bei Abstimmungen im Parlament nicht automatisch gegen Netanjahu stimmen werden – was seine Regierung definitiv zu Fall bringen würde –, ist seine Position damit sehr wackelig.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ein Parteikollege war, der Netanjahu in seine jetzige missliche Lage hineinmanövriert hat: der Knessetabgeordnete Yuri Edelstein. Dieser weigert sich nämlich standhaft, das Gesetz über die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe (Charedim) zu verwässern.
Der von Edelstein präsidierte Auslands- und Verteidigungsausschusses der Knesset ist für die Vorberatung dieses umstrittenen Gesetzes zuständig. Die hinter den beiden ultraorthodoxen Parteien stehenden Rabbiner hatten eine Vorlage gefordert, die de facto weiterhin auf eine pauschale Entbindung junger strengreligiöser Israeli vom Militärdienst hinauslaufen würde.
Nach aussen hin machen sie dabei Religionsgrundsätze geltend. In Tat und Wahrheit fürchten sie sich aber davor, dass ihre in abgeschotteten Gemeinschaften lebenden Zöglinge beim Kontakt mit säkularen jungen Israelis und Israelinnen auf «falsche» Gedanken kommen und ihren bisherigen religiösen Lebensstil in Frage stellen könnten.
Die Freistellung der Ultraorthodoxen vom Militärdienst war ein «Geburtsfehler» bei der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Damals hatte Israels erster Ministerpräsident David Ben Gurion durchgesetzt, dass Charedim nicht ins Militär einbezogen werden.
Allerdings ging es dabei bloss um rund 400 Strenggläubige, die so vom Militärdienst entbunden wurden. Inzwischen aber machen die Charedim 13 Prozent der israelischen Bevölkerung aus, und die Rede ist von rund 60’000 Ultraorthodoxen, die aufgrund des damaligen Beschlusses nicht in die Armee, IDF, müssen.
Von der grossen säkularen Mehrheit der Israelis, aber auch von der IDF wird dies seit jeher als stossend empfunden. Diese Ablehnung hat seit dem 7. Oktober 2023 nochmals massiv zugenommen. Denn der inzwischen beinahe zwei Jahre dauernde Krieg gegen die Hamas und der zeitweilige Krieg gegen die Hisbollah im Libanon belasten die wehrpflichtigen Staatsbürger und -bürgerinnen Israels mehr als je zuvor in der noch jungen Geschichte des Landes.
So machte auch Yuri Edelstein klar, er könne keinem Gesetz zustimmen, das den Strenggläubigen einen Blankocheck für die Entbindung von der Dienstpflicht ausstelle, während ihre Landsleute bei der Verteidigung des Landes solche Opfer auf sich nähmen.
Dass es ein Gesetz braucht, welches die Wehrpflicht der Ultraorthodoxen regelt, hat am 25. Juni 2024 Israels oberstes Gericht, der Supreme Court, verfügt. Dieser entschied mit 9:0 Stimmen, dass es keine rechtliche Grundlage für eine pauschale Befreiung der Charedim von der Wehrpflicht – und damit eine Bevorzugung gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen – gebe.
Das Gericht forderte auch, die staatliche Unterstützung religiöser Schulen (Yeshivas) einzustellen, wenn sich diese dem Wehrdienst ihrer Schüler entgegenstellten. Dies ist längst nicht in allen Yeshivas der Fall; es gibt auch solche, deren Schüler von sich aus Militärdienst leisten.
Rund eine Woche nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes, am 1. Juli 2024, bot die israelische Armee IDF 3’000 Charedim zum Militärdienst auf. 3’000 andere hatten sich unmittelbar nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 freiwillig für den Dienst in der IDF gemeldet. Insgesamt sollen rund 60’000 Ultraorthodoxe einbezogen werden.
Mit Rücksicht auf die von ihnen einzuhaltenden religiösen Gesetze leisten sie in speziellen Einheiten Dienst. Dennoch ist es in den letzten Monaten immer wieder zu Protesten von Ultraorthodoxen gegen diese Massnahme gekommen. Jetzt haben ihre beiden Knessetparteien die Drohung wahrgemacht, die Koalitionsregierung zu verlassen, sollte das aufgrund des Gerichtsurteils notwendig gewordene Dienstpflichtgesetz nicht ihren Vorstellungen entsprechen.
Das ist für Netanjahu schmerzlich. Aber die wirklich entscheidenden Tage stehen ihm noch bevor. Denn innert Kürze wird er sich für ein neues Waffenstillstandsabkommen in Gaza entscheiden müssen. Der Druck dafür seitens der USA ist gross.
Auch die Mehrheit seiner eigenen Bevölkerung, inklusive viele Soldaten, ist kriegsmüde und will endlich die Freilassung der noch von der Hamas gehaltenen 50 Geiseln erreichen.20 von ihnen sollen noch am Leben sein.
Für Netanjahu ist es entscheidend, ein Abkommen auszuhandeln, das ihm später die neuerliche Bekämpfung der Hamas oder deren anderweitige Ausschaltung von der Macht in Gaza nicht verunmöglicht.
Sonst werden auch die zwei rechtsextremen Minister Bezalei Smotrich und Itamer Ben-Gvir mit ihrer Religiös-Zionistischen Partei und der Partei Otzma Yehudit (Jüdische Macht) die Regierungskoalition verlassen. Dann stünde Netanjahu mit seiner Likudpartei allein da und wäre wohl gezwungen, im Herbst Neuwahlen auszurufen.
Diesen Schritt will er unbedingt vermeiden. Zwar ist es möglich, dass Likud dank der persönlichen Popularität, die Netanjahu mit dem Sieg gegen den Iran zurückgewonnen hat, ein gutes Resultat einfahren würde. Aber es muss davon ausgegangen werden, dass bei seinen bisherigen Koalitionspartnern das Gegenteil der Fall wäre.
Somit wäre eine Neuauflage der bisherigen Koalition unter Führung von Likud unmöglich und Netanjahus politisches Schicksal wohl besiegelt.
Allerdings ist dies in der Vergangenheit schon öfters prophezeit worden, ohne dass es eingetreten ist. Für den am längsten amtierenden Ministerpräsidenten Israels gilt mehr als für die meisten anderen Politiker der Grundsatz «Totgesagte leben länger».