23. Mai 2025
Netanjahus Problem mit dem Frieden
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu steckt in der Zwickmühle. Die grosse Mehrheit seiner Landsleute wünscht sich, dass die noch von der Terrororganisation Hamas festgehaltenen 59 Geiseln, von denen 20 noch leben sollen, möglichst rasch freikommen. Netanjahu selbst hat indessen die Vernichtung der Hamas zu seinem obersten Ziel erklärt.
Dafür gibt es gute Gründe. Denn wenn die palästinensische Terrorgruppe in Gaza weiterhin an der Macht bleibt und sich wieder bewaffnen kann, dann ist der nächste „7. Oktober“ programmiert.
Mit dieser Begründung hat Netanjahu den Vorschlag der Hamas abgelehnt, als Gegenleistung für die Freilassung sämtlicher 58 verbliebenen Geiseln eine fünfjährige Waffenruhe einzugehen.
Doch in Tat und Wahrheit war dies nur ein Vorwand. Denn das angebliche Dilemma „Geiselfreilassung oder Eliminierung der Hamas“ ist in Wirklichkeit keines.
Die israelische Regierung könnte nämlich der Hamas als Gegenleistung für die Freilassung der noch gefangenen Geiseln zunächst einen fünfjährigen Frieden versprechen. Um dann nach der erfolgten Freilassung von diesem Versprechen wieder Abstand zu nehmen und die Hamas erneut zu bekämpfen.
Dies mindestens so lange, bis sichergestellt ist, dass die Hamas in Gaza weder politisch noch militärisch je wieder eine Rolle spielen kann.
In Europa und der UNO würde ein derartiger Wortbruch der israelischen Regierung wohl mit (gespielter) Empörung quittiert. Aber für Israel gibt es keine moralische oder rechtliche Verpflichtung, eine Abmachung mit einer mörderischen Terrororganisation einzuhalten, deren erklärtes Ziel die Vernichtung Israels und der Juden ist.
Vor allem aber hätte ein solcher „Vertragsbruch“ für Israel im benachbarten arabischen Raum ausser ein paar verbalen Protesten keine echten Konsequenzen. Denn dort gehören gebrochene Versprechen zum politischen Tagesgeschäft und dies ist allen Akteuren bewusst.
Im Gegenteil: Die Entmachtung der Hamas durch Israel käme den Golfstaaten gelegen. Denn dies wäre die Voraussetzung dafür, dass sie mit einer panarabischen Schutzmacht in Gaza die Führung übernehmen und den durch den Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogenen Küstenstreifen mit Hilfe der Europäer und der USA wieder aufbauen könnte. Ein Vorhaben, das hinter den Kulissen schon lange diskutiert wird.
Für Israel zählt deshalb einzig, dass ein solcher Wortbruch gegenüber der Hamas mit Rücksicht auf die Geiseln sowie auch militärisch und politisch Sinn machen würde.
Aus Sicht der Geiseln, weil sie so möglichst rasch freikämen.
Militärisch, weil kein Staat es sich auf Dauer leisten kann, an seinen Grenzen eine Organisation zu dulden, deren erklärtes und in einer Charta verbrieftes Ziel die Vernichtung eben dieses Staates und seiner Bevölkerung ist.
Politisch, weil mit einem Gazastreifen ohne Hamas und unter panarabischer Obhut die Voraussetzung geschaffen würde, den Frieden mit Ägypten, Jordanien und den Golfstaaten auf Saudi-Arabien auszudehnen. Ein Schritt, der nicht bloss politisch, sondern auch wirtschaftlich für beide Länder positiv wäre.
Zudem würde Israel den palästinensischen Terrororganisationen damit zeigen, dass es sich nicht erpressen lässt und Geiselnahmen und Mordanschläge hart bestraft – auch wenn es zuvor einen Waffenstillstand gutgeheissen hat.
Es sprechen also weder humanitäre und militärische noch politische oder wirtschaftliche Gründe dagegen, einen Deal mit der Hamas einzugehen – und ihn, nachdem alle noch verbliebenen Geiseln freigekommen sind, zu brechen, um die Hamas auszuschalten.
Weshalb also handelt Netanjahu nicht dementsprechend?
Weil seine Regierung bei einem (vorläufigen) Friedensschluss mit der Hamas auseinanderfallen würde. Denn die Minister Itamer Ben-Gvir und Bezalei Smotrich würden mit ihren beiden rechtsextremen Parteien die Regierung verlassen und es käme zu vorgezogenen Neuwahlen.
Dies wäre allen Meinungsumfragen zufolge das Ende von Netanjahus Likud als Regierungspartei und sein persönliches Ende als Premierminister und Politiker. Damit würde er seine Immunität verlieren, die ihn derzeit vor der Strafverfolgung in einer Reihe von Korruptionsfällen schützt.
Mit anderen Worten: Das wirkliche Dilemma Netanjahus besteht darin, dass ihm nach Ende des Gaza-Krieges und seiner anschliessend zu erwartenden Abwahl Gefängnis droht.