21. Mai 2025
Danke, Nemo! Die Analyse eines Schusses, der nach hinten losging
Eines vorweg: Der Sieg Österreichs am diesjährigen Eurovision Song Contest in Basel geht in Ordnung. Aber mindestens so eindrücklich ist der zweite Platz der israelischen Teilnehmerin Yuval Raphael.
Im Vorfeld mit Anfeindungen aus woken und anti-israelischen linken und islamistischen Kreisen konfrontiert, zeigte die 24-jährige Überlebende des Massakers vom 7. Oktober nicht nur Mut und Nervenstärke, sondern sie überzeugte im Halbfinal und Final mit ihrer starken Stimme, einem makellosen Auftritt und einem bewegenden Song.
Dass sie es damit auf den zweiten Platz unter den 37 am ESC teilnehmenden Nationen schaffte, verdankte sie nicht der Jury, sondern dem Publikum. Denn im Gegensatz zu den Juroren, welche der jungen Israelin nur 60 Stimmen gaben, erhielt sie vom Publikum 297. Dies bedeutete Platz 1 und 41 Stimmen mehr als das beim Publikum zweitplatzierte Estland (256) sowie rund 100 Stimmen mehr als das vom Publikum auf Platz 3 gesetzte Schweden (195).
In insgesamt 13 Ländern, also in mehr als einem Drittel aller teilnehmenden Nationen, gab das Publikum Yuval Raphael das Maximum von 12 Stimmen und setzte sie damit auf Platz 1. In weiteren 6 Ländern wurde sie von den Zuschauerinnen und Zuschauern mit 10 Stimmen auf Rang 2 gesetzt.
Politisch aufschlussreich ist, welche Länder, die junge Israelin derart stark unterstützten. Denn zu jenen Ländern, wo sie vom Publikum am meisten Stimmen erhielt, gehörten auch diverse grosse, wo die Stimmen aus der jüdischen Community nicht den Ausschlag geben konnten, und wo zudem die Regierung einen sehr israelkritischen bis sogar -feindlichen Kurs fährt.
So erhielt Yuval Raphael nicht nur in Deutschland, das mit Israel speziell verbunden ist, am meisten Stimmen, sondern auch in Spanien und Portugal, wo die Regierung gegenüber Israel sehr kritisch ist, sowie in Schweden, wo dies bis vor kurzem ebenfalls der Fall war. In Irland, das politisch gesehen ebenfalls zu den grössten Gegnern Israels in der EU gehört, setzten die Zuschauerinnen und Zuschauer die junge Israelin immerhin auf Platz 2.
Auch in Grossbritannien und Frankreich, wo es eine zahlenmässig starke muslimische Bevölkerungsgruppe und in den letzten Jahren zahlreiche massive antisemitische Ausschreitungen und Gewaltakte gab, war Yuval Raphael für das Fernseh-Publikum die Siegerin.
Das gleiche galt im muslimischen Aserbeidschan, das gute Beziehungen zu Israel pflegt, sowie in Holland, Belgien, Luxemburg, Australien sowie dem «Rest der Welt» mit den nicht am ESC vertretenen Ländern, die gemeinsam gewertet wurden.
Auch in der Schweiz setzten die ESC-Zuschauerinnen und -Zuschauer Yuval Raphael auf Platz 1. Das ist insofern bemerkenswert, als im Vorfeld des diesjährigen ESC der letztjährige Schweizer Teilnehmer und Sieger, Nemo, öffentlich für einen Ausschluss der jungen Israelin votiert hatte und in Basel vor dem Halbfinal und Final des Wettbewerbs massive anti-israelische Demonstrationen stattfanden.
Ohne den starken Auftritt Yuval Raphaels schmälern zu wollen, kann gesagt werden: Dieser Schuss ging nach hinten los. Weil diese Anfeindungen genau das Gegenteil dessen bewirkten, was sie bezweckten. Statt einer Distanzierung von Israel und dessen junger Repräsentantin führten sie zu einer Solidarisierungswelle. Diese ging, wie ich selbst erfahren durfte, weit über die jüdische Schweizer Community hinaus.
In Nemos Fall kam wohl auch hinzu, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer eine – verständliche – Aversion gegen die Woke- und Transgender-Bewegung hat, die Nemo repräsentiert.
Im Nachhinein muss man deshalb sagen: Danke, Nemo, für deinen schändlichen Appell!
Die jetzige israelische Regierung darf sich dieses Resultat freilich nicht auf ihre Fahnen schreiben. Denn viele von Yuval Raphaels Supportern sind mit Sicherheit mit der derzeitigen Politik von Benjamin Netanjahu und seinen rechtsradikalen Verbündeten nicht einverstanden sein.
Das zeigt sich auch daran, dass die Unterstützung für Israel im Vergleich zu jener vor einem Jahr zurückgegangen ist. 2024 fand der ESC verhältnismässig kurz nach dem 7. Oktober statt, aber bevor das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza wegen des Krieges ein derartiges Ausmass angenommen hatte. Damals setzte das Publikum in 15 Ländern die israelische Vertreterin Eden Golan auf Platz 2 und in weiteren 7 Ländern auf Platz 1 und gab ihr insgesamt 375 Punkte, also 18 mehr als Yuval Raphael trotz ihrer guten Darbietung dieses Jahr erhielt.
Fazit: Viele – jüdische und nicht-jüdische – Abstimmende beim ESC kritisieren die Gazapolitik der Regierung Netanjahu. Aber sie stellen deswegen nicht ihre grundsätzliche Unterstützung für Israel in Frage.
Noch weniger tolerieren sie es, wenn jemand wie Yuval Raphael angegriffen wird. Ausgerechnet sie, die als Besucherin des Nova Musikfestivals zu den Opfern des 7. Oktober gehörte, sollte mit dem Ausschluss vom ESC bestraft werden. Dies war für die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer empörend und unerträglich.
Dasselbe lässt sich für all jene sagen, welche Yuval Raphael in Ländern unterstützten, wo in den letzten Jahren laute anti-israelische und antisemitische Proteste die Schlagzeilen dominierten.
Damit illustrierte die Kontroverse um die Teilnahme Israels am ESC 2025 eine alte Binsenwahrheit: Die veröffentlichte Meinung (in den Medien) und die öffentliche Meinung (der Bevölkerungsmehrheit) sind längst nicht immer dasselbe.
Für die Juden in Europa und für die Freunde Israels ist dies eine beruhigende Erkenntnis.
Dieser Kommentar erschien auch auf Nebelspalter | Danke, Nemo! Die Analyse eines Schusses, der nach hinten losging