Charedim und die israelische Armee
In diesen Tagen ist in Israel erneut die altbekannte Debatte entfacht, welche den Militärdienst streng orthodoxer Bürger der charedischen Gesellschaft beziehungsweise deren Drücken vor demselben, thematisiert. Die Wurzel der heutigen Realität liegt bei der Gründung Israels, als Staatschef David Ben Gurion eine damals kleine Anzahl charedischer Talmudstudenten vom Armeedienst befreite. Diese Klausel lehnte sich an den talmudischen Ausdruck «torato omanuto», das heisst «sein Berufszweig ist die Thora» (Schabbat 11a) an. Das Problem ist, dass die Zahl streng orthodoxer Männer, die vom Militärdienst auf diese Weise befreit wurden, 1948 400 Jeschiwa-Studenten betrug, aufgrund der demografischen Veränderungen in Israel inzwischen jedoch zu rund 60 000 angewachsen ist!
Diese Realität, in welcher sich 18 Prozent (!) der armeetauglichen Männer hinter dem Argument des Talmudstudiums vor der Militärpflicht drücken, ist schlicht nicht akzeptabel. Dies gilt umso mehr nach dem 7. Oktober. Im gegenwärtigen Krieg ist die Notwendigkeit einer grösseren, breiter angelegten israelischen Armee deutlich sichtbar geworden. Israel kann sich eine solch riesige Anzahl von Militär-Drückebergern schlicht nicht mehr leisten.
Diese Realität ist nicht nur ein moralisches Problem, sondern auch ein religiöses. Bereits Mosche kritisierte den Stamm Ruben, als dieser sich ausserhalb des Gelobten Landes, jenseits des Jordan-Flusses, ansiedeln wollte: «Sollen eure Brüder in den Krieg ziehen, und ihr wollt hier bleiben?» (4. B. M. 32:6). Die charedische Seite argumentiert gerne mit dem talmudischen Prinzip, wonach das Thora-Studium einen metaphysischen Schutz kreiere: «Wenn man sich mit dem Gebote befasst, schützt und rettet es» (Sota 21a). Sogar wenn dies stimmen sollte, handelt es sich hier um ein irrationales und deshalb für einen modernen Staat irrelevantes Argument. Ausserdem ist es auch unehrlich. Der populäre zionistische Rabbiner Chaim Nawon sagt hierzu: «Wenn ein charedischer Jeschiwa-Student ein krankes Kind hat, beschränkt er sich ja nicht auf das Lernen einer Talmudseite, sondern nimmt es ins Spital, und wenn es sein muss, in ein fernes Land. Wieso kann er, wenn das ganze jüdische Volk krank ist, sein Talmudbuch nicht für ein bis zwei Jahre schliessen, wie es die Helden der zionistischen Hesder-Jeschiwot tun?» Nawons Ton wird in dieser Sache sogar noch schärfer: «Es stimmt, Charedim engagieren sich freiwillig für einen Dienst bei ZAKA (eine wohltätige Organisation zur Identifizerung von Todesopfern nach Terrorattentaten oder Unfällen; Anm. d. Redaktion), aber wir waren nie mit einem Deal einverstanden, wonach wir im Krieg sterben und sie unsere Leichen zählen. Sollen sie doch bitte so gut sein und sich in die Reihen der Kämpfer einreihen.» Dem sei anzufügen, dass es sich bei einem Krieg im Heiligen Land zur «Rettung Israels aus der Hand eines Bedrängers, der es überfallen hat» (Rambam), gemäss der Halacha ausdrücklich um eine «milchemet mizwa», einen «gebotenen Krieg» handelt, der alle jüdischen Männer und Frauen religionsgesetzlich verpflichtet.
Andererseits macht das Argument, dass talmudische Genies eine Freistellung des Militärdienstes genauso wie Ausnahmesportler verdienen, auch Sinn. Ein Kern von seriösen Jeschiwa-Gelehrten sollte im jüdischen Staat unangetastet bleiben. Zuerst einmal sollten jene jungen Männer der charedischen Gesellschaft einrücken, die es mit den Thora-Studien nicht so ernst nehmen, und davon gibt es leider nicht wenige. In welche Militäreinheit soll man sie integrieren? Die Plattform der Armee dazu zu benutzen, um seine charedischen Mitbürger zwanghaft zu säkularisieren, kann und darf nicht der Imperativ des jüdischen Staates sein, genauso wie moderne jüdische Menschen religiösen Zwang seitens streng orthodoxer Juden vehement und zu Recht ablehnen würden. Dies ist ganz im Sinne der talmudischen Richtlinie Hillels: «Was dir verhasst ist, das tue deinem Nächsten nicht an» (Schabbat 31a). Toleranter Liberalismus heisst nicht, andere, patriarchale, konservativere Gesellschaften mit Zwang zu ändern, sondern Verhältnisse zu schaffen, welche sie dazu animieren, sich zu einem gewissen Grad in die moderne Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Jegliche Änderung des charedischen Lebensstils muss von innen kommen, sonst hat sie keinen Bestand. In der Praxis bedeutet dies, in der israelischen Armee homogene Divisionen zu schaffen, die «charedim-freundlich» sind, etwa durch längere Gebetszeiten und einem höheren Kaschrut-Standard, oder indem deren Truppen nicht von Soldatinnen trainiert werden, wie es bei anderen Kampfeinheiten manchmal der Fall ist.
Die Zeit ist gekommen, dass sich unsere charedischen Brüder aktiv in die Verteidigung Israels einreihen. Andererseits ist auch der Staat Israel gefordert, einen Rahmen in der IDF zu kreieren, in welchem streng orthodoxe Männer sich wohlfühlen und entfalten können. Dazu braucht es eine Prise guten Willen. Auf allen Seiten.
*«Charedim« (Gottesfürchtige)
Text: Emanuel Cohn. Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem |© Aus dem jüdischen Wochenmagazin TACHLES, 1.03.2024